Die heißen Kuesse der Revolution
hatte sie offenbar aufgehört zu existieren.
So allein hatte sie sich noch nie gefühlt. Zu allem Überfluss waren ihre Brüder noch immer nicht zurück in der Stadt. Sie wussten nicht, was Julianne durchmachen musste, und jeder Versuch, wenigstens Amelia zu schreiben, misslang. Julianne fand nicht die richtigen Worte.
Sie näherten sich dem Pantheon, einer Vergnügungshalle, an der sie Marcel treffen sollte. Sie schwitzte vor Angst. Wenn doch alles nur bald vorbei ist, dachte sie. Sie wollte nur noch nach Hause und Dominics vollständiger Gleichgültigkeit entkommen.
Eddie hielt die Kutsche an, sprang vom Bock und half ihr hinaus. „Ich hoffe, es wird nicht länger als eine halbe Stunde dauern“, sagte sie.
Das Retikül fest im Griff, betrat sie das Pantheon. Die Haupthalle war beinahe so groß wie Bedford House und hatte eine riesige gewölbte Decke. Das Pantheon hatte viele verschiedene Räume, doch Marcel wollte sie in der belebten Haupthalle treffen. Hier flanierten rund ein Dutzend größere Gruppen, neben verliebten Paaren und Gentlemen, die ernsthafte Konversation betrieben. An beiden Seiten der Halle zogen sich hinter verzierten Säulen zweistöckige Gänge entlang. Was dort vor sich ging, konnte sie nicht erkennen.
Sie sah sich um. Marcel war nicht zu sehen. Zweifellos versteckte er sich hinter einer der Säulen oder in einem der Gänge. Vielleicht lauerten auch Dominic oder ihr Onkel dort irgendwo. Man hatte ihr gesagt, sie würden lange vor ihrer Ankunft auf ihren Posten sein.
An einer Säule ganz in ihrer Nähe machte ein Gentleman einer Frau den Hof. Er trug grünen Samt, sie dunkelblauen. Er wandte ihr den Rücken zu, doch Julianne konnte einen Blick auf das hübsche Gesicht der Frau werfen. Die beiden lieben sich, dachte sie mit wehem Herzen. Die Frau berührte so oft beiläufig seinen Arm und lächelte, sobald er ihre Hand ergriff. Dann küsste er sie züchtig auf die Wange.
Plötzlich ließ der Mann die Frau stehen und drehte sich um. Julianne erkannte unter einer langen, lockigen Perücke Marcel und erstarrte. Er kam mit großen Schritten auf sie zu. „Guten Tag, Julianne. Mein Gott, Sie sehen ja entsetzlich aus.“ Ihm entging wirklich nichts. „Was ist denn los?“
„Das Spionieren sagt mir nicht zu.“
Er musterte sie. „Und?“
Julianne zwang sich, nicht an ihm vorbeizublicken. Bis jetzt waren weder Dominic noch Sebastian Warlock in ihrem Blickfeld aufgetaucht. „Lucas läuft morgen früh mit der ersten Flut nach Frankreich aus. Er wird in St. Malo an Land gehen.“
Marcel stutzte. Doch dann lächelte er. „Das ist ausgezeichnet, Julianne. Haben Sie sonst noch etwas für mich?“
„Reicht das noch nicht?“, fragte sie entsetzt und bemerkte selbst die Anspannung in ihrer Stimme. Wo steckte Dominic? Wo blieb ihr Onkel? Julianne merkte zu spät, dass sie sich verzweifelt umsah.
„Suchen Sie jemanden?“
„Nein.“ Sie zitterte. Wo waren sie bloß?
„Ich hoffe doch sehr, dass Sie mich nicht verraten wollen.“
Am liebsten hätte sie ihm ins Gesicht gespuckt. „Eines Tages werden Sie bekommen, was Sie verdienen.“
Er lachte höhnisch und ging davon.
Julianne blieb allein mitten in der großen Halle stehen. Sie war fassungslos. Wieso hatte sich Dominic nicht auf Marcel gestürzt?
Sie beobachtete, wie Marcel die Halle durch den Hauptausgang verließ und in der Oxford Street verschwand. Verzweifelt ballte sie die Fäuste. Sie sah sich noch einmal im Pantheon um, konnte aber niemanden erkennen.
Wütend raffte sie ihre Röche und eilte nach draußen, wo Eddie neben dem Zweispänner wartete. „Fahren Sie bitte schnell wieder nach Hause“, sagte sie nur knapp und stieg ein. Es war also immer noch nicht vorbei. Doch noch eine Nacht mit Dominic hinter verschlossenen Türen würde sie nicht überstehen.
Julianne durfte sich nicht dem Selbstmitleid überlassen. Ihre Gedanken drehten sich im Kreis. Sie fragte sich, was Dominic zugestoßen sein mochte. Plötzlich begann sie, sich Sorgen um ihn zu machen. Nur ein Unfall konnte ihn davon abgehalten haben, Marcel zu ergreifen.
Eine halbe Stunde später fuhr die Kutsche die Auffahrt zu Bedford House hinauf. Julianne japste fassungslos nach Luft, als sie dort die großen, überdachten und verschlossenen Kutschen ihres Onkels und von Dominic sah.
Als sie aus dem offenen Zweispänner heraussprang, wurde die Doppeltür zum Haus geöffnet und zwei Diener trugen Koffer heraus. Es waren die Koffer, die Julianne und Nancy in jener
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