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Ochajon 04 - Das Lied der Koenige

Ochajon 04 - Das Lied der Koenige

Titel: Ochajon 04 - Das Lied der Koenige Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Batya Gur
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Brahms' Erste
     
     
     
    Schon als er die CD auflegte und das Gerät einschaltete, meinte Michael Ochajon ein Schreien zu hören. Ein paar Laute, dann war es wieder still. Er schenkte der Sache keine allzu große Beachtung, sondern blieb mit dem Beiheft in de r Hand neben dem Regal stehen und schaute auf die Buch staben, ohne sie zu lesen. Er zögerte, ob er es zulassen sollte, daß diese Klänge, der dramatische Zusammenklang von Streichern und Pauken, die Ruhe störten, die der Feiertag verbreitete. Es war einer der letzten Sommerabende, und in der Dämmerung wurde die Luft ganz allmählich kühl und klar. Er dachte über die Frage nach, ob der Mensch sich der Musik hingab, damit sich ihm verborgene Welten auftaten. Ob er in ihr eine starke Resonanz auf seine Wahrnehmun gen suchte oder ob er ihr lauschte, damit sie eine bestimmte Stimmung schuf, wenn er sich leer und dumpf fühlte und die Beschaulichkeit des Feiertags sich nicht recht auf ihn zu übertragen schien. Wenn es die Stimmung wäre, meldete sich in seinem Innern eine schwache Stimme zu Wort, hätte er sich nicht ausgerechnet für dieses Werk entschieden, das nichts mit der feiertäglichen Jerusalemer Stille gemein hatte.
    Jerusalem hatte sich sehr verändert, seit er als junger Internatsschüler hergekommen war. Mit den Jahren war er Zeuge geworden, wie es sich allmählich von einem verschlossenen, introvertierten, asketischen Provinznest zu einer Stadt mit dem Flair einer Metropole gemausert hatte. Durch die engen Straßen krochen Autoschlangen, und hek tische Fahrer, die mitunter auch mit den Fäusten drohten und durch übellaunig verzogene Mienen ihren Unmut demonstrierten, veranstalteten hilflose Hupkonzerte. Es ver blüffte Michael immer wieder, wie gleichwohl zu Beginn der Feiertage (wenn auch nur für ein paar Stunden und auch nur bis zum Einbruch der Dunkelheit) nach der lärmenden, ohrenbetäubenden Geschäftigkeit plötzlich eine versöhn liche Gelassenheit herrschte und vollkommene Ruhe einkehrte.
    So vollendet war die Stille, bevor die Musik einsetzte. So ungetrübt war sie, als ob jemand einen Taktstock gehoben hätte, vor dem ersten Akkord tief durchgeatmet und der ganzen Welt absolute Lautlosigkeit geboten hätte. Mit ei nem Schlag verschwanden die nervösen, fahrigen Blicke der gehetzten Menschen aus seinem Bewußtsein, die vor den klingelnden Kassen im Supermarkt lange Schlangen gebildet hatten. Er vergaß allmählich die Hektik in den Augen der Menschen, als sie mit Plastiktüten und behutsam balancierten Präsentkörben beladen in fieberhafter Eile die JaffaStraße überquerten. Die Menschen hatten sich bang durch die Kolonnen der Autos geschlängelt, deren Motoren zitterten und deren Fahrer auf die Hupen drückten, während sie die Köpfe aus den heruntergekurbelten Fenstern streckten, um herauszufinden, was diesmal der Grund für die lästige Wartezeit war. All diese Eindrücke fielen von ihm ab.
    Gegen 16 Uhr waren die Autohupen und das Motorengebrumm verstummt. In der Welt war es friedlich geworden. Es herrschte ein Friede, der Michael an seine Kindheit erinnerte, an das Haus seiner Mutter und an die Freitagnachmittage, wenn er vom Internat nach Hause kam.
    Sobald es an den Feiertagen still wurde, sah er wieder das strahlende Gesicht seiner Mutter vor sich. Wie sie, um die Aufregung zu verbergen, beherrscht an ihrer Unterlippe nagte, während sie am Fenster stand und auf ihren Jüngsten wartete. Sie hatte ihm, obwohl ihr Mann nicht mehr am Leben war und obwohl Michael ihr jüngstes Kind war, erlaubt, das Haus zu verlassen. Nur einmal alle zwei Wochen kam er für ein kurzes Wochenende und für die Feiertage nach Hause. Am Freitagnachmittag war er an der Endstation aus dem letzten Bus gestiegen und hatte den langen Weg hinter dem Hügel bis zur Straße am Ortsrand eingeschlagen. Die Menschen waren frisch gewaschen und hockten behaglich in ihren Häusern, erfüllt von einer Sicherheit und Zufriedenheit, die in der Vorfreude des Feiertags begründet lag. Wenn sie sich in gebügelten, weißen Hemden mit ihren Lieben um die Küchentische versammelten, die von den Feiertagsspeisen überquollen, hatte diese Ruhe – während er die enge Straße zu dem grauen Haus hinaufstieg – ihn zärtlich willkommen geheißen.
     
    Auch rings um seine Wohnung, die er schon vor ein paar Jahren bezogen hatte, wurden die Bewohner still. Man mußte ein paar Stufen hinuntersteigen, um in die Wohnung zu gelangen, und erst wenn man im Wohnzimmer stand und

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