Die Herren der Unterwelt 02 - Schwarzer Kuss
Aufmerksamkeit“, befahl Anya leise.
Es verging eine Weile. Lucien gehorchte ihr nicht.
Einige Menschen sahen in ihre Richtung, weil sie ihren Befehl gespürt hatten, aber Lucien starrte weiter auf den leeren Flachmann vor sich auf dem Tisch und blieb sitzen, fast schon ein bisschen wehmütig. Zu ihrem Ärger prallten ihre Befehle an Unsterblichen ab. Eine freundliche Geste der Götter.
„Mistkerle“, murmelte sie. Alle möglichen Einschränkungen hatten sie ihr auferlegt. „Alles nur, um der wunderbaren Anarchie Knüppel zwischen die Beine zu werfen.“
Anya war es nicht sonderlich gut ergangen, während sie ihre Tage auf dem Olymp verbracht hatte. Die Göttinnen hatten sie nicht leiden können, denn sie glaubten, dass sie ganz nach ihrer „Hure von Mutter“ geraten sei und darauf erpicht, ihren Göttergatten zu bezirzen. Genauso wenig war sie von den Göttern respektiert worden, ebenfalls wegen ihrer Mutter. Obwohl die Kerle sie schon gewollt hatten. Bis sie schließlich ihren heiß geliebten Wachkapitän getötet hatte. Dann war ihnen der Verdacht gekommen, Anya sei doch wilder als erwartet.
Idioten. Der Captain hatte verdient, was sie ihm zugefügt hatte. Verdammt, er hätte eigentlich noch Schlimmeres verdient. Dieses Schwein hatte versucht, sie zu vergewaltigen. Wenn er sie in Ruhe gelassen hätte, dann hätte sie auch ihn in Ruhe gelassen. Aber nein! Sie bereute es nicht, ihm sein schwarzes Herz aus der Brust geschnitten und es dann auf einem Speer vor dem Tempel der Aphrodite aufgespießt zu haben. Es tat ihr nicht im Geringsten leid. Ihre Freiheit war ihr heilig, und jeder, der versuchte, sie ihr zu nehmen, würde ihre Dolche zu spüren bekommen.
Freiheit. Das Wort hallte in ihr nach und brachte sie wieder in die Gegenwart zurück. Was zur Hölle musste sie tun, um Lucien davon zu überzeugen, dass sie für ihn geschaffen war?
„Nimm mich wahr, Lucien. Bitte.“
Noch immer ignorierte er sie.
Sie stampfte mit dem Fuß auf. Wochenlang hatte sie sich unsichtbar gemacht und war Lucien gefolgt, um ihn beobachten und kennenlernen zu können. Und zugegeben, sie war scharf auf ihn. Er hatte es nicht mitbekommen, dass sie sich in seiner Nähe aufhielt, auch als sie ihn zu zwingen versuchte, alle möglichen schlimmen Sachen zu machen: sich auszuziehen, sich selbst Lust zu verschaffen … zu lächeln. Okay, also das Letzte war nicht schlimm. Aber sie wollte sein wunderschönes vernarbtes Gesicht sehen, wenn er lachte – ebenso, wenn sein nackter Körper vor Erregung glühte.
Hatte er auch nur einer dieser freundlichen Bitten nachgegeben? Nein!
Auf der anderen Seite wünschte sie sich, dass sie ihm nie begegnet wäre. Dass sie vor einigen Monaten Cronus, dem neuen König der Götter, nie erlaubt hätte, ihr die Geschichten der Lords zu erzählen. Vielleicht bin ich hier die Idiotin.
Cronus war gerade erst Tartarus entkommen, einem Gefängnis für die Unsterblichen, das sie sofort wiedererkannt hatte, als sie es sah. Er hatte Zeus und seine Gefolgschaft dort eingekerkert, ebenso wie Anyas Eltern. Als Anya zurückgekommen war, um ihre Eltern zu befreien, hatte Cronus schon auf sie gewartet. Er hatte ihren größten Schatz verlangt. Sie hatte abgelehnt – puh –, und daher hatte er versucht, sie einzuschüchtern.
Gib mir, was ich will, oder ich werde die Lords der Unterwelt auf dich hetzen. Sie sind von Dämonen besessen, die sind so blutrünstig wie hungrige Tiere, und sie werden nicht zögern, dir das zarte Fleisch von den Knochen zu reißen … Und so weiter und so fort.
Anstatt sie zu erschrecken, hatten seine Worte ihre Neugier geweckt. Am Ende war sie losgezogen, um von sich aus die Krieger aufzutreiben. Sie wollte sie besiegen und dann Cronus ins Gesicht lachen. So stellte Anya es sich vor: Schau mal, was ich mit deinen großen fürchterlichen Dämonen angestellt habe!
Beim Anblick von Lucien war sie allerdings auf der Stelle von ihm verzaubert gewesen. Sie hatte vergessen, aus welchem Grund sie gekommen war, und hatte den vermeintlich übelwollenden Kriegern sogar geholfen.
Es waren die Widersprüche, die sie reizten, und Lucien war die Inkarnation des Widerspruchs. Zwar hatte er viele Narben, aber er war kein gebrochener Mann, er war sanft, aber unnachgiebig. Er war ein ruhiger, nach allen Regeln der Kunst Unsterblicher, aber nicht so blutrünstig, wie Cronus behauptet hatte. Lucien war von einem bösen Geist besessen, dennoch richtete er sich immer nach seinem persönlichen Ehrenkodex.
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