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Die Herren von Hermiston

Titel: Die Herren von Hermiston Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Louis Stevenson
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Vater ist ein großer Mann, mein Schatz, und es kommt weder dir noch mir zu, ihn zu richten. Es würde uns allen zum Ruhme gereichen, wenn jeder von uns sich in seiner Stellung so führte, wie dein Vater in seinem hohen Amt; laß mich nie wieder eine so unehrerbietige und pflichtvergessene Frage hören! Nicht etwa, daß du die Absicht hattest, unehrerbietig zu sein,mein Lämmchen. Deine Mutter weiß das schon – sie weiß es ganz genau, mein Herzblatt.« Und damit glitt sie zu gefahrloseren Themen über, hinterließ jedoch in dem Kindergemüt ein dumpfes, aber unauslöschliches Gefühl des Unrechts.
    Mrs. Weirs Lebensphilosophie ließ sich in ein Wort zusammenfassen: Empfindsamkeit! So wie sich ihr das ganz von der Glut der Höllentore erleuchtete Weltall malte, waren gute Menschen verpflichtet, in einer Art Ekstase der Empfindsamkeit durchs Leben zu gehen. Die Tiere und Pflanzen besaßen zwar keine Seelen, aber sie waren ja nur auf einen Tag geschaffen; mochte dieser Tag ihnen sanft verrinnen! Und was die unsterblichen Menschen betraf – wie abschüssig war der Pfad, den viele von ihnen gingen – wie grausam die Ewigkeit, in die er mündete! »Kauft man nicht zwei Sperlinge –« »So dir jemand einen Streich gibt –« »und läßt regnen über Gerechte und Ungerechte« »Richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet werdet« – diese Texte bedeuteten für sie das A und O des Gottesworts. Sie zog sie morgens mit ihren Kleidern an und legte sich des Nachts mit ihnen schlafen; sie gingen ihr unablässig im Kopfe herum wie eine geliebte Melodie und umschwebten sie gleich einem Lieblingsparfüm. Der Familiengeistliche war ein kerniger Ausleger der Schrift, dem Mylord mit Behagen lauschte; allein Mrs. Weir verehrte ihn nur von ferne, hörte sein nützliches Dröhnen jenseits der Rampen des Dogmas (gleich den Kanonen einer belagerten Stadt) und weilte inzwischen innerhalb wie außerhalb der Schußweite in ihrem privaten Garten, den sie mit dankbaren Tränen wässerte. Seltsam zu sagen,war diese farblose und rückgratlose Frau wahrhaft fromm; sie hätte der Sonnenschein und der Ruhm eines Klosters werden können. Vielleicht kannte niemand außer Archie ihre Beredsamkeit; er allein hatte seine Mutter mit geröteten Wangen und verschlungenen oder bebenden Händen gesehen, ganz sanfte Glut. In dem Parke von Hermiston gibt es einen Winkel, von wo aus man einen unerwarteten Blick auf den Gipfel des Schwarzen Berges hat, der mitunter nichts weiter ist als die grasige Kuppe einer Anhöhe, mitunter aber auch (um Mrs. Weirs eigenen Ausdruck zu gebrauchen) einem kostbaren Juwel in einer Wolkenfassung gleicht. Wenn der Berg an solchen Tagen plötzlich vor ihr auftauchte, preßten ihre Finger sich um die des Kindes, und ihre Stimme schwang sich zu einem Liede auf. »Auf die Berge möcht' ich steigen!« sang sie und fügte hinzu: »Ach, Archie, sind sie nicht wie die Hügel Naphtalis?«, und ihre Tränen strömten.
    Auf ein eindrucksfähiges Kind mußte diese ständige, sanfte Begleitmusik des Lebens eine tiefe Wirkung ausüben. Der Frau Quietismus und Frömmigkeit gingen ungeschmälert auf seine völlig verschiedene Natur über; aber während sie dort dem eingeborenen Gefühl entsprangen, waren sie hier nur ein eingepflanztes Dogma. Natur und des Kindes Kampflust lehnten sich manchmal dagegen auf. Ein Proletarierjunge aus der Potterrow schlug ihn eines Tages auf den Mund; er schlug zurück, die beiden trugen die Sache in einer Gasse hinter den Ställen bei den Meadows aus, und Archie kehrte mit einer beträchtlich verminderten Anzahl Vorderzähne nach Hause zurück, wo er in wenig erbaulicher Weise mit den Verlustenseines Feindes prahlte. Das war ein schlimmer Tag für Mrs. Weir; sie betete und weinte über dem jugendlichen Sünder, bis die Zeit von Mylords Heimkehr vom Gericht herannahte und sie die Miene zittriger Ruhe aufsetzen mußte, mit der sie ihn zu begrüßen pflegte. Der Richter war an jenem Tage in beobachtender Laune und bemerkte sehr bald die fehlenden Zähne. »Ich fürchte, Archie hat mit einem der Burschen aus dem Hinterhause gerauft«, sagte Mrs. Weir.
    Mylords Stimme dröhnte, wie sie das in der Zurückgezogenheit seiner Häuslichkeit selten tat. »Dergleichen Dinge verbitte ich mir, Junge! Hast du mich verstanden? – Alle dergleichen Dinge! Ich dulde nicht, daß sich ein Sohn von mir mit irgendwelchem schmutzigen Pöbel in der Gosse wälzt!«
    Die besorgte Mutter war dankbar für eine so kräftige

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