Die Herrin von Avalon
der Druiden.«
Die Fee zog mit einer fast unmerklichen Geste den Nebel dichter um die Mondsichel. Das Wasser wurde still, das Land sank wieder in traumlosen Schlaf. Die Raben waren verschwunden. Die singende Stimme schien kaum noch wahrnehmbar zu sein. Wie eine Erinnerung schwebte sie in der Luft über dem Ufer.
»Damals habe ich einen Krieger mit goldenen Haaren zu mir genommen, der sich in meine Welt verirrt hatte. Doch er sehnte sich nach seiner Heimat, und ich schickte ihn wieder zurück. Als Geschenk ließ er mir das Kind. Unsere Tochter hat das goldblonde Haar und die helle Haut von ihm. Ihre Neugier kennt keine Grenzen. Sie will mehr über die Menschen wissen.«
Von der Fee war nichts mehr zu sehen. Ihre Gestalt hatte sich auf geheimnisvolle Weise mit dem Wasser und dem Land verbunden. Sie sprach aus dem Baum, ihre Stimme liebkoste das Schilf, ihre Hände bewegten das Wasser. Aber ihre Augen richteten sich herausfordernd auf die schmale Sichel, denn der Nebel war vor den hellen Strahlen in die Nacht zurückgewichen.
»Die Zeit wendet sich. Eine Priesterin der Sterblichen hat die Wahrheit begriffen und flieht hierher in das alte Heiligtum. Ich kenne ihre Seele, die sie mir geschenkt hat, als ich sie an einem anderen Ufer vor der Verzweiflung rettete. Doch sie ist alt geworden. Warum werden die Menschen so schnell alt?«
Die Frage war an die Göttin gerichtet. In ihr lag mehr als nur Hohn, sondern der Vorwurf einer Mutter, deren Tochter zu den Sterblichen zählt. Während die Fee auf eine Antwort wartete, schlossen sich die Pforten der Tiefe, als habe das Schicksal bereits entschieden. Die Stille hatte keinen Atem, sie war ein kaltes Funkeln ohne Licht, alle Worte blieben ohne Ton, alle Körper ohne Schatten, und der Gesang der Fee verhallte ohne Echo. Unmerklich verwandelte sich Vergangenheit in Gegenwart. Auf dem heiligen Fels erstarb der Wind. Der fordernde Arm der Zukunft legte sich besitzergreifend auf den alten Stein des Altars.
Die Fee nickte. »Sie kommt mit einem Kind. Ich kenne auch seine Seele. Die Fäden des Schicksals führen uns alle hier zusammen. Die Priesterin, meine Tochter und der Junge sind im Gewebe der Zeit seit langem miteinander verbunden.« Sie lachte, und ihre nächste Frage klang drohend: »Bedeutet das Unheil oder Segen?« Ohne Zögern sprach sie weiter: »Das zu entscheiden, bin ich hier! Ich spüre, daß der Augenblick kommen wird, an dem es meine Aufgabe ist, ihre Seelen an diesen Ort zu binden, den die Sterblichen Avalon nennen.«
Die Göttin blieb auch diesmal stumm. Die schmale Sichel des Mondes zog weiter ihre Bahn wie seit Anbeginn der Zeit. Die Fee lächelte, als habe sie keine Antwort erwartet. Aber dann seufzte sie, und die Insel erschauerte unter ihrem Atem. Die Zukunft würde schon bald zeigen, wie das Schicksal in dieser Nacht entschieden hatte.
DIE HOHEPRIESTERIN
96-118
1. Kapitel
Die Sonne würde bald untergehen. Über dem Wasser im Tal von Avalon lag ein goldener Glanz. Grüne und braune Sumpfgrasbüschel wiegten sich in den sanften Wellen. Am Ende des Herbstes verschwammen die hohen Schilfgräser der Sümpfe selbst bei wolkenlosem Himmel in einem silbrig schimmernden Dunst. Der steile Tor mit dem Ring der Steine auf der Spitze ragte weit über die anderen Hügel auf.
Caillean blickte erleichtert über das Wasser. Die Falten des blauen Umhangs, das Zeichen ihres Rangs als Hohepriesterin, hüllten sie schützend ein. Sie spürte, wie in der friedlichen Stille die Erschöpfung der langen Reise allmählich schwand. Es war eine Ewigkeit her, seit sie aufgebrochen war, um Albion endgültig zu verlassen. Auf dem langen Weg nach Avalon war der Sinn ihres ganzen Lebens in Frage gestellt worden. Sie würde nie den verzweifelten Abschied vergessen, den Anblick der Asche des Scheiterhaufens in Vernemeton, wo die Druiden Eilan und ihren römischen Geliebten geopfert hatten.
Mein Leben führt mich von einer Niederlage zur nächsten ...
Caillean ließ beim Gedanken an die Tragödie, die den Untergang der Priesterschaft zu besiegeln schien, niedergeschlagen den Kopf sinken. Es dauerte eine Weile, bis sie den Blick wieder auf den Tor richtete und sich dabei wie eine Ertrinkende an die Gewißheit klammerte, die ihr in diesem Leben nur noch die heilige Insel verhieß.
Ich werde das Heiligtum der Göttin nicht noch einmal verlassen .
»Ist das Avalon?«
Gawens Frage rief sie in die Gegenwart zurück. Der Junge blinzelte, als blende ihn die Sonne. Unwillkürlich mußte
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