Die Herrin von Avalon
vor der geheimnisvollen Macht zurückzuweichen schienen.
»Die Sterblichen, die sich in mein Reich verirren, behaupten, daß sich in der anderen Welt nie etwas verändert. Doch das stimmt nicht. Die Ereignisse bei den Menschen werfen Schatten auf alle anderen Ebenen. Und es gibt Punkte, an denen die Ebenen so dicht beieinanderliegen wie die Falten einer Decke. Die Menschen nennen diese Insel hier Avalon, aber der alte Name ist Inis Vitrin, die gläserne Insel. Sie ist einer der Orte, wo sich die unsichtbaren Pforten dem Strom der Zeit öffnen können.«
Die Göttin des Mondes hatte den Warnruf der Raben gehört. Ihre schmale Sichel erschien wie ein sich öffnendes Auge am dunklen Horizont. Die kaum sichtbare Gestalt auf dem Boot wirkte plötzlich im weißen Licht der silbernen Strahlen groß wie ein Berg. Unbeeindruckt sprach die Fee weiter und griff mit einem samtigen Lachen nach den Nebelschleiern, in die sie sich schützend hüllte.
»Für mich ist die Zeit der Menschen nur eine Kette bunter Augenblicke, aber hin und wieder blitzt etwas auf, das meine Aufmerksamkeit findet. Dann verlasse ich meine Welt und erscheine in der anderen.«
Die Raben ließen sich nicht täuschen und umkreisten die Nebel mit wütendem Krächzen. Sie begleiteten das Boot, das sich langsam dem Ufer näherte, mit dem rauschenden Schlag ihrer mächtigen schwarzen Schwingen.
»Als die Mütter der Menschen in dieses Land kamen, fand mein Volk, das keine Körper kannte, Gefallen an ihren Gestalten, und wir schufen uns Erscheinungen, die den ihren glichen. Doch nach ihrer Ankunft wurden wir nicht länger gebraucht, um der Welt das Bewußtsein von sich selbst zu geben, denn die Menschen gaben allem, was sie sahen, einen Namen. Sie errichteten ihre Hütten auf Pfählen am Ufer des Sees und jagten in den Sümpfen. Wir freundeten uns mit ihnen an, und wir spielten zusammen, denn das alles ereignete sich am Morgen der Welt.«
Die Fee hob langsam und beschwörend die Arme. Die Raben ließen sich auf dem großen alten Baum nieder, dem sie sich mit schwebenden Schritten körperlos näherte, während das Boot in der Nacht entschwand.
»Die Zeit verging, und die Meister des alten Wissens bezwangen mit ihren wundersamen Erfindungen das Meer, obwohl sie ihre eigene heilige Insel nicht vor dem strafenden Feuer und den gierigen Fluten retten konnten. Sie kamen als Fliehende, und wir nahmen sie auf, weil sie das geheime Wissen auf die Insel brachten. Sie ordneten große Steine nach dem Gesetz der Natur, um die Linien der göttlichen Kraft sichtbar zu machen, die das Land durchziehen. Sie faßten die heilige Quelle in Stein und meißelten den Weg aus dem Fels, der sich wie eine Spirale um den Tor windet. Sie entdeckten in der Gestalt der Landschaft die Sternensymbole der göttlichen Kraft.«
Ein heftiger Windstoß, den sie mit ihrem Lachen rief, riß die Raben von den Ästen. Das Krächzen der schwarzen Vögel klang drohend und zornig. Aber die Fee stand bewegungslos unter dem alten Baum und blickte mit leeren Augen in die Vergangenheit, die nie vergeht.
»Sie waren Eingeweihte und wußten deshalb um die dunklen Mächte. Sie kannten die geheimen Worte, die den Sterblichen die Pforten in die anderen Welten öffnen. Sie gewannen sogar über uns eine gewisse Macht. Es half ihnen wenig. Mein Volk wurde als die ersten Kinder der Erde geboren. Die Eingeweihten stiegen mit ihren fragenden Gedanken zu den Sternen hinauf. Doch sie blieben sterblich und verschwanden allmählich von der Erde, weil sie gegen das ewige Gesetz verstießen. Wir dagegen widerstanden allen Änderungen der Zeit.«
Der Wind fuhr noch einmal durch den Baum. Die Fee hob die Hand, aber die Mondgöttin blieb stumm, und ihre Sichel verschwand hinter einer schwarzen Wolke.
Als die dunkle Stimme der Fee wieder ertönte, schwebte sie über dem Schilf, das sich raschelnd und flüsternd unter ihren Worten beugte.
»Nach den Eingeweihten kamen andere Menschen mit hellen Haaren. Sie lachten wie Kinder, aber sie hatten blitzende Schwerter. Wir konnten die Berührung des kalten Metalls nicht ertragen. Seit dieser Zeit zogen wir Feen uns immer weiter von der Welt der Menschen zurück. Von den letzten Eingeweihten lernten die Menschen das alte Wissen, und ihre Priester, die Druiden, wurden vom Geheimnis der gläsernen Insel angezogen. Als die Legionen Roms durch das Land zogen und es mit gepflasterten Straßen fesselten und alle töteten, die sich ihnen widersetzten, wurde Inis Vitrin zum Zufluchtsort
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