Die Herrin von Avalon
über dem Tor erscheint.
Ein Rabe erhebt sich mit leisem Flügelschlag von der alten Eiche. Er ist vorsichtig und nähert sich nicht der Gestalt auf der Barke.
Die Fee folgt dem Flug des Vogels nur einen Augenblick lang, denn ihre Augen blicken wie immer zurück, in das, was ist und sein wird. Plötzlich lacht sie, und die Wellen bewegen sich wie unter einer sanften Liebkosung.
»Eine Kindfrau, sie sieht aus wie ich, herrscht jetzt in Avalon. Vor einem Augenblick war es ihre Mutter, nach einem Augenblick wird ihr vielleicht die Tochter von Igraine folgen, die meiner Tochter Sianna so ähnlich ist.«
Die Fee greift nach der Stange, aber sie bewegt sie nicht. Das Boot kennt die Bahn in die ungestörte Ruhe der Dunkelheit.
»Es hat viele Hohepriesterinnen gegeben, seit Caillean die Welt verließ und meine Tochter den Schmuck als Herrin von Avalon anlegte. Manche traten das Erbe dank ihrer Abstammung an, andere, weil eine alte Seele wiedergeboren worden war.
Priesterin oder Königin, König oder Meister, das Wesen der Macht verändert sich nie, es fügt sich nur immer aufs neue. Deshalb sind die Menschen Opfer ihrer eigenen Verwirrung. Sie glauben, das Blut sei von Bedeutung, und träumen von Dynastien. Doch ich beobachte die Entwicklung, die über die Sterblichkeit hinausreicht.«
Ein klagender Ton hallt über das Wasser. Die Fee nickt. Auf dem Tor entzünden die Priesterinnen beim Ritual die Fackeln.
»Das ist der Unterschied. Sie ahnen nur, was mit ihrer Seele geschieht. Sie wachsen und verändern sich von Leben zu Leben, von Zeitalter zu Zeitalter, ohne zu wissen, in welche Richtung sie das Spiel ihres Schicksals treibt. Ich aber bin auf immer dieselbe.«
Ist es ihr Lachen oder das Klatschen der Wellen? Mit dem leisen Geräusch auf dem Wasser verhallt auch der schwermütige Gesang auf dem Tor. Die Fee hat sich in das samtige Nichts der Nacht gehüllt. Wie eine Mahnung hören die Weiden und das hohe Schilf ihre jenseitige Stimme. Eine beklemmende Kälte senkt sich herab. Ohne das wärmende Licht ist der Winter nahe. Mit der Gewißheit des lange erwarteten Scheidens singt die Stimme der Fee die Insel in Schlaf.
»So müßt ihr Menschen euch in das fügen, was ihr selbst geschaffen habt. Die Priester des neuen Glaubens, der alle Götter außer einem leugnet, nehmen Britannien in Besitz. Das Avalon der Priesterinnen entfernt sich immer weiter aus dem Bewußtsein der Menschen.«
Der schwarze Vogel schwebt über der Eiche und läßt sich lautlos auf den breiten Ästen der Krone nieder.
Die Worte der Fee sind verklungen und lasten wie der Spruch eines Richters über dem Land. Der schwarze Wächter ist zufrieden und schließt die Augen. Kein Eindringling kann sich hierher wagen.
Wie ein Echo tragen die niemals müden Wellen die Worte der Fee ans Ufer. Der Rabe schläft und hört sie nicht.
»Die beiden Reiche werden sich jedoch nie völlig voneinander trennen. Nach allem, was geschehen ist, habe ich das eine als Wahrheit erkannt. Die Kraft der Erde ist ebenso unerschöpflich wie der Geist, der hinter all ihren Göttern steht.«
Das Tor in der Tiefe öffnet sich langsam, um die Fee einzulassen, die in ihr Reich zurückkehrt. Ihre Gedanken steigen langsam an die Oberfläche und sinken in die Träume derer, die nicht schlafen.
»Eine neue Zeit bricht an, in der Avalon den Menschen so fern erscheinen wird wie unser Reich. Viviane, die Kindfrau, wird ihre Macht zu dem Versuch benutzen, dieses Schicksal zu ändern. Und die, die nach ihr kommt, wird das ebenfalls tun. Es wird ihnen nicht gelingen. Wenn der König kommt, auf den sie alle warten, wird er nur kurze Zeit siegreich sein. Wie könnte es anders sein? Die vielen Augenblicke im Leben der Welt werden über den Gräbern geboren.
Nur ihre Träume werden überleben, denn nur ein Traum ist unsterblich. Auch wenn sich die Welt völlig verändern sollte, bleiben die Stellen, an denen etwas vom Licht der anderen Welten in die der Menschen fällt.«
Mit lautlosem Hall schließt sich das Tor. Die Nacht hat sich in der völligen Finsternis erfüllt. Auch der Hügel ist in der Schwärze der dunklen Wolken begraben.
Wie als Antwort zerreißt das Funkeln der acht Sterne das dicke Wolkenband. Der Große Bär weist nach Norden, wo der Polarstern, Herrscher des Himmels, über die Gesetze des Lebens wacht.
Viviane, die neue Herrin von Avalon, sieht im traumlosen Schlaf das Gesicht der lächelnden Fee.
»Erwarte keinen Lohn, mein Kind. Du mußt nicht die Finsternis
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