Die Hexe
Reste des letzten Absperrgitters, verbrannte die hölzerne Tür am Ende des Gangs und stürmte hustend in den kleinen, völlig verqualmten Raum. Nach einigen Sekunden deaktivierte sie die Drachenbrise . In einer Ecke, verhüllt von dichtem Rauch, stöhnten zu Tode versengte NKWDler, verkohlte Deckenbalken schwelten bedrohlich und durch die Korridore schallten die Rufe von Feuerwehrleuten. Alles Nebensache.
Kara begab sich zur entfernten Wand. Irgendwo hier musste es sein. Genau hier! Mit einem Ruck entfernte sie die hölzerne Abdeckung. Darunter kam eine Steinplatte zum Vorschein, in die ein verschnörkeltes Muster eingraviert war. Sie atmete tief durch, um sich zu sammeln, leckte mit der Zunge über ihre staubtrockenen Lippen und streckte langsam die Hand nach der Platte aus. Die Aufgabe war nicht sonderlich schwierig, erforderte jedoch ein Höchstmaß an Konzentration: Sie musste die Linien des Musters in einer bestimmten Reihenfolge nachfahren und gleichzeitig einen Zauberspruch sprechen. Mit etwas Übung konnte man das in zweieinhalb Minuten schaffen. Kara brauchte drei Minuten, und als der letzte Abschnitt des Musters bläulich zu leuchten begann, hörte sie erleichtert ein leises Summen. Der Turm hatte ihren Schlüssel angenommen!
Von der Decke flutete gespenstisch flackerndes Licht und mitten im Raum, etwa in Brusthöhe, tauchte aus dem Nichts ein dickes Buch in einem schwarzen Ledereinband auf.
Es hatte geklappt!
Kara triumphierte. Sie nahm das Buch und presste es voller Freude an ihre Brust. Sie hatte es geschafft. Das Buch war gerettet!
»Hierher mit dem Wasser! Mach schon, du Trottel!«
»Aber hier brennt es doch überhaupt nicht!«
»Mach doch die Augen auf, die Balken glühen gleich durch!«
Die Soldaten kamen näher. Kara zog das große Tuch aus ihrem Mantel hervor und wickelte ihren Schatz sorgfältig darin ein.
Nun war es höchste Zeit, sich über einen Rückzugsweg Gedanken zu machen. Sollte sie versuchen, in den Keller zu gelangen? Dort gab es Ausgänge, die in das unterirdische Labyrinth der Stadt führten. Allerdings wäre es naiv gewesen zu glauben, dass Santiago sie nicht bewachen ließ. Oder war es besser, nach oben zu fliehen? Von dort konnte sie aus dem Fenster springen und versuchen, sich unter die Menge zu mischen. Ein ziemlich halsbrecherisches Unterfangen. Feinde erwarteten sie hier wie dort.
Kara schob das Schwarze Buch unter ihren Mantel und knöpfte ihn fest zu. Dann schlich sie zur Tür und horchte. Die Stimmen aus dem Korridor kamen näher. Sie wollte gerade die Drachenbrise wieder aktivieren und den Raum verlassen, als sie plötzlich auf einen Lichtschein in ihrem Rücken aufmerksam wurde. Er kam von der Steinplatte, deren Muster immer noch bläulich leuchtete. Merkwürdig, magische Schlösser verloschen normalerweise, nachdem ein Schlüssel aktiviert worden war. Was hatte das zu bedeuten? Erfüllt von einer diffusen Hoffnung ging die Zauberin zu der Steinplatte zurück und versuchte, die Hand auf das Muster zu legen. Sie griff ins Leere! Ihre Hand glitt durch die Platte, als wäre diese nicht da! Ein Portal? Das konnte doch nicht sein! Nach allem, was sie wusste, funktionierten im Sucharew-Turm keine Portale. Doch sie hatte nun keine Zeit mehr, darüber nachzusinnieren. Durch den Korridor hallte das Getrampel der NKWDler und vor den Mauern des Turms erwarteten sie die Magier der Verborgenen Stadt. Ihre einzige Rettung war dieser geheime Fluchtweg, den der kluge und vorausschauende Jakob Bruce eingerichtet hatte.
»Danke, lieber Schotte!«, flüsterte Kara und trat in das Portal.
Kaganowitsch hatte den Schauplatz längst verlassen, die Menge war seufzend auseinandergegangen, den Brand hatte man gelöscht und die Wände des prachtvollen Turms erzitterten wieder unter den erbarmungslosen Hammerschlägen der kommunistischen Stadtverschönerer. Vom Lagerfeuer, wo die durchgefrorenen NKWDLER sich wärmten, wehte die Internationale herüber – zur Stärkung der Moral.
»Ich werde dann jetzt aufbrechen«, verkündete Santiago zur Überraschung von de Lieu und Susanna. »Ich fürchte, dass unsere weitere Anwesenheit hier überflüssig ist. Die alten Gemäuer können die Kommunisten auch ohne uns abreißen und das, weswegen wir eigentlich hergekommen sind, die Seele des Sucharew-Turms gewissermaßen, befindet sich längst an einem anderen Ort.«
»Die Humo-Hexe ist aber immer noch nicht herausgekommen«, wandte der Kriegsmeister ein.
»Dann ist sie auch nicht mehr
Weitere Kostenlose Bücher