Die Himmelsscheibe 01 - Die Tochter der Himmelsscheibe
geh jetzt«, sagte Lea. »Bevor noch jemand merkt, dass du hier bist. Ich werde Arri zu dir schicken, wenn ich dich brauche.«
Rahn ging so schnell, dass es zu nichts anderem als einer Flucht wurde, und Arri wartete nicht einmal, bis seine Schritte draußen auf der Stiege verklungen waren, bevor sie sich auf dem Absatz umdrehte und ihre Mutter anfuhr: »Was bedeutet das? Was soll das heißen, er soll auf mich aufpassen? Wieso ausgerechnet er? Und wieso brauche ich überhaupt jemanden, der über mich wacht?«
Die Reaktion ihrer Mutter war anders, als sie erwartet hatte. Unter gewöhnlichen Umständen hätte sie ihr einen so unverschämten Ton niemals durchgehen lassen, jetzt aber sah sie ihre Tochter nur einen Atemzug lang traurig an und sagte dann leise: »Rahn spioniert uns sowieso hinterher. Ist es dann nicht viel klüger, ihn für unsere Zwecke einzubinden?«
6
Arri hätte selbst nicht genau sagen können, was sie erwartet hatte - doch für die nächsten fünf oder sechs Tage geschah rein gar nichts Außergewöhnliches, sah man einmal davon ab, dass Rahn ihr ganz offensichtlich aus dem Weg ging und sie selbst alle Hände voll zu tun hatte, um ihren kleinen Garten in Schuss zu halten und ihr sonstiges Tagwerk zu verrichten. Anfangs hatte sie noch ein paar Mal versucht, mit ihrer Mutter zu reden, aber stets entweder gar keine oder aber eine so abweisende Antwort erhalten, dass sie es bald aufgegeben und sich in beleidigtes Schweigen gehüllt hatte. Ihrer Mutter schien das nur recht zu sein. Anders als Arri es erwartet hätte, rief sie sie nicht zur Ordnung, sondern beließ es dabei, ihr dann und wann einen vorwurfsvollen Blick zuzuwerfen - und ihr selbstverständlich die unangenehmsten und schwersten Arbeiten aufzutragen, die ihr nur einfielen.
Wenigstens kam es Arri so vor. Jeden Morgen schickte Lea sie mit frischem Verbandszeug und Salbe zu Kron, damit sie seine Wunden behandelte und sie selbst über die Genesung des Jägers auf dem Laufenden hielt. In den ersten ein oder zwei Tagen war Arri sicher, dass ihre Mutter das nur tat, um sie zu bestrafen, denn wann immer Kron sich dazu aufraffen konnte, überschüttete er sie mit den wüstesten Flüchen und Verwünschungen; und wenn er dazu zu müde oder zu erschöpft war, starrte er sie wütend und hasserfüllt zugleich an. Außerdem wurde der Weg zu seiner Hütte und wieder zurück jedes Mal zur reinen Qual für sie.
Einmal war sie Sarn begegnet, der zwar nichts gesagt hatte, aber das war auch nicht nötig gewesen - der Blick, mit dem er sie gemustert hatte, war schlimmer gewesen als alles, was er hätte sagen können; ein anderes Mal waren ihr Osh und einige der anderen Kinder aus dem Dorf nachgelaufen und hatten ihr etwas hinterhergeschrien, was sie einfach nicht hatte verstehen wollen, ja, eines von ihnen hatte es sich sogar nicht verkneifen können, ihr einen Erdklumpen nachzuschleudern, der sie aber weit verfehlt hatte. Arri war mehr als wütend auf ihre Mutter. Sie schickte sie nicht nur ausgerechnet zu dem Menschen im Dorf, der sie am allerwenigsten sehen wollte, sondern hatte ihr auch noch diesen Irren Rahn auf den Hals gehetzt. Dass sie ihn in all der Zeit nicht ein einziges Mal zu Gesicht bekam, änderte überhaupt nichts an ihrem Zorn, ja, auf eine gewisse Art schien es ihn eher noch schlimmer zu machen, denn ein Rahn, den sie sah, war ihr hundertmal lieber als einer, den sie nicht sah und der hinter ihrem Rücken wer weiß was ausbrütete.
Dann aber geschah etwas Seltsames. Arri fühlte sich von der schrecklichen Aufgabe, die ihre Mutter ihr aufgetragen hatte, noch immer gleichermaßen angewidert wie gedemütigt; Krons Armstumpf heilte zwar gut, und nicht nur das, sondern auch mit geradezu erstaunlicher Schnelligkeit, aber er bot trotzdem einen schrecklichen Anblick. Vielleicht waren es nicht einmal so sehr die entzündete Narbe und das rote, nässende Fleisch, von dem trotz allem noch immer ein leicht brandiger Geruch ausging, und ganz gewiss nicht Krons Beleidigungen und Flüche, die sie schon nach den ersten Besuchen kaum noch wahrnahm. Nein, was ihre Besuche in seiner Hütte so schrecklich machte, das war der Umstand, dass ihr sein Anblick die Verwundbarkeit Krons - und damit auch ihre eigene - vor Augen führte. Kron und seine beiden Brüder waren die mit Abstand stärksten Männer im Dorf gewesen. Das war stets so gewesen, und es hatte für Arri nie einen Zweifel daran gegeben, dass sie es auch bleiben würden. Nichts und niemand, nicht der
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