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Die Himmelsscheibe 01 - Die Tochter der Himmelsscheibe

Die Himmelsscheibe 01 - Die Tochter der Himmelsscheibe

Titel: Die Himmelsscheibe 01 - Die Tochter der Himmelsscheibe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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Wunde auf diese Weise sauber zu wischen, womit sie es natürlich nur noch schlimmer machte. Dennoch hörte sie nicht auf. Ganz im Gegenteil - in ihrem Zustand genoss sie den Schmerz, lenkte er sie doch zumindest ein bisschen von den schrecklichen Bildern ab, die sie noch immer peinigten. Sie wischte und rubbelte so lange über ihren Arm, bis ihr der Schmerz die Tränen in die Augen trieb und sie es nicht mehr aushielt.
    Erst dann kam sie einigermaßen zur Vernunft und wendete zumindest etwas von dem an, was ihre Mutter sie gelehrt hatte. Ungeschickt, weil nur mit einer Hand, riss sie ein Stück aus dem ohnehin zerfetzten Ärmel ihrer Bluse, wickelte den Streifen um ihren Oberarm und knotete ihn so fest zu, wie sie es gerade noch aushielt. Aus dem brennenden Schmerz in ihrem Fleisch wurde ein kaum weniger quälendes Pochen, und der Streifen färbte sich rasch dunkel und nass. Zwar konnte sie den Arm jetzt endgültig nicht mehr bewegen, ohne jedes Mal vor Schmerz die Zähne aufeinander beißen zu müssen, aber zumindest hörte die Wunde auf zu bluten.
    Zeit verging. Arri hätte hinterher nicht mehr sagen können, wie viel, doch die Schatten, die das Sonnenlicht warf, welches durch das durchlöcherte grüne Dach hoch über ihrem Kopf hereinfiel, wanderten ein sichtbares Stück weiter, bevor sie ganz allmählich das Gefühl hatte, wieder in die Wirklichkeit zurückzufinden und zum ersten Mal seit einer endlos langen Zeit wieder einen halbwegs klaren Gedanken zu fassen.
    Nicht, dass sie besonders stolz darauf gewesen wäre. Nun, wo der erste Schrecken verklungen war und Bestürzung, Unglauben und pures Entsetzen ihre Vernunft wenigstens nicht mehr völlig davonwischten, begann Arri allmählich zu begreifen, dass sie sich recht dumm benommen hatte. Sie war weit davon entfernt, sich selbst auch nur die geringste Schuld an dem zu geben, was passiert war - und wie konnte sie das auch? -, aber da war zugleich auch eine leise, aber beharrliche Stimme in ihr, die darauf bestand, dass sie falsch reagiert hatte. Sie hatte jedes Recht, entsetzt zu sein, jedes Recht, empört zu sein - aber sie hätte nicht einfach davonlaufen und sich wie ein kleines Kind benehmen sollen. Schließlich wusste sie nicht erst seit jetzt, dass es einen gewissen Unterschied zwischen Männern und Frauen gab und offensichtlich auch etwas, das beide dann und wann miteinander tun mussten, und warum sollte ihre Mutter da eine Ausnahme machen, nur weil sie ihre Mutter war? Und trotzdem - Rahn? Warum ausgerechnet er?
    Etwas raschelte im Unterholz hinter ihr. Arri fuhr erschrocken herum und suchte mit misstrauischen Blicken das Muster aus schwarzen, grünen und dunkelbraunen Schatten ab, das sie umgab. Das Rascheln wiederholte sich nicht, und sie sah auch nichts; vermutlich ein kleines Tier, das ihretwegen geflohen war. Auch wenn sie weit gelaufen war, befand sie sich doch noch in der Nähe des Dorfes, und die wenigen wirklich gefährlichen Raubtiere, die es gab, mieden erfahrungsgemäß die Nähe von Menschen.
    Aber sie hatte den Wolf nicht vergessen, und auch den Fremden nicht.
    Doch wie konnte sie zurück? Arri war noch immer bis ins Innerste aufgewühlt. Sie spürte Scham: Scham über das, was sie gesehen hatte, wie auch über ihr eigenes kindisches Verhalten. So konnte sie ihrer Mutter unmöglich unter die Augen treten.
    Sie konnte aber auch nicht hier bleiben. Die Vorstellung, ihre Mutter könne sie suchen und sie hier mitten im Wald finden, wo sie sich wie ein kleines Kind in den Schatten verkrochen hatte, war ihr unerträglich.
    Was sie wieder zu der Frage brachte, was sie nun tun sollte. Tief in sich bedauerte es Arri längst, so Hals über Kopf aus der Hütte geflohen zu sein. Vielleicht nicht einmal aus der Hütte - diese allererste, spontane Reaktion konnte sie sich selbst verzeihen, und sie wusste, dass ihre Mutter es ganz genauso gehalten hätte - aber sie hätte es damit gut sein lassen und spätestens dann stehen bleiben sollen, als ihre Mutter sie zurückgerufen hatte. Indem sie einfach weitergelaufen und wie ein störrisches Kind blindlings in den Wald geflüchtet war, hatte sie womöglich nicht nur den Zorn ihrer Mutter heraufbeschworen, sondern sich selbst jeder Möglichkeit beraubt, ihr wieder unter die Augen zu treten, ohne das Gesicht zu verlieren.
    Arri fragte sich, ob sie das überhaupt jemals wieder konnte. Rahn. Warum ausgerechnet Rahn? Warum von allen Menschen im Dorf ausgerechnet der Mann, der sie am meisten in Rage zu bringen

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