Die historischen Romane
Turmzimmern glich, aber stark nach abgestandener Luft und angeschimmelten Büchern roch. Meine erhobene Lampe erhellte zuerst das Deckengewölbe, dann erschienen, im gleichen Maße, wie ich den Arm nach rechts und links schwenkend langsam senkte, im flackernden Schein ringsum an den Wänden die Umrisse hoher Bücherregale. Schließlich gewahrten wir in der Mitte des Raumes einen Tisch voller Bücher und Pergamente, hinter dem jemand saß, der uns reglos im Dunkeln zu erwarten schien, sofern er überhaupt lebte. Noch ehe das Licht auf sein Antlitz fiel, sprach William ihn an.
»Guten Abend, ehrwürdiger Jorge. Hast du uns schon erwartet?«
Wir traten einen Schritt näher, und die Flamme erhellte das bleiche Gesicht des Alten, der uns ansah, als ob er uns sehen könnte.
»Bist du es, William von Baskerville? Ich habe dich seit heute Nachmittag erwartet, als ich eine Stunde vor Vesper heraufkam, um mich hier einzuschließen. Ich wusste, dass du kommen würdest.«
»Und der Abt?« fragte William. »Ist er es, der sich unten auf der Geheimtreppe regt?«
Jorge zögerte einen Moment. »Lebt er noch?« fragte er dann. »Ich dachte, er sei schon erstickt.«
»Bevor wir unser Gespräch beginnen«, sagte William, »will ich ihn retten. Du kannst von hier aus öffnen.«
»Nein«, erwiderte Jorge mit müder Stimme, »ich kann es nicht mehr. Der Mechanismus wird von unten bedient, man drückt auf den Grabstein in der Mauer, worauf sich hier oben ein Hebel löst, der eine Tür öffnet, drüben hinter dem Schrank.« Er deutete hinter sich. »Du siehst dort neben dem Schrank ein Rad mit zwei Gegengewichten, das den Mechanismus von hier aus steuert. Als ich vorhin hörte, wie sich das Rad bewegte, wusste ich, dass der Abt unten eingedrungen war. Ich gab dem Seil, an dem die Gewichte hängen, einen kräftigen Ruck, so dass es zerriss. Nun ist der Geheimgang von beiden Seiten versperrt. Du könntest die Apparatur nicht wieder zusammenfügen. Der Abt ist ein toter Mann.«
»Warum hast du ihn getötet?«
»Heute Nachmittag, als er mich rufen ließ, sagte er mir, er habe dank deiner Enthüllungen alles durchschaut. Er wisse nur noch nicht, was ich zu schützen versuchte – er hat nie richtig begriffen, was für Schätze diese Bibliothek enthält und welchen Zwecken sie dient. Er wollte, dass ich ihm erkläre, was er noch nicht wusste. Er verlangte die Öffnung des Finis Africae. Die Italiener hatten ihn aufgefordert, dem von mir und meinen Vorgängern hier genährten Geheimnis, wie sie es nannten, ein Ende zu setzen. Sie beben vor Gier nach Novitäten...«
»Und da musstest du dem Abt versprechen, hierherzugehen und deinem Leben ein Ende zu setzen, wie du es mit dem Leben der anderen getan hast, damit die Ehre der Abtei gewahrt bleibe und niemand etwas erfahre, nicht wahr? Du sagtest ihm, wie er hierherkommen könnte, um es später zu kontrollieren. Doch statt hier drin deinem Leben ein Ende zu setzen, hast du auf ihn gewartet, um ihn zu töten. Dachtest du nicht, dass er durch den Spiegel hereinkommen könnte?«
»Nein, Abbo war zu klein von Statur, er hätte die Inschrift nicht ohne fremde Hilfe erreichen können. Ich nannte ihm die Geheimtreppe, die ich als einziger in der Abtei noch kannte. Sie war es, die ich seit Jahren benutzt habe, sie ist bequemer im Dunkeln. Man braucht nur von der Seitenkapelle den Knochen der Toten zu folgen bis ans Ende...«
» So hast du ihn also herbestellt, um ihn zu töten.«
»Ich konnte mich nicht mehr auf ihn verlassen. Er hatte Angst. Sein Ruhm beruhte darauf, dass er einst in Fossanova einen Körper erfolgreich eine Wendeltreppe hinuntergeschafft hatte. Nun ist er tot, weil er seinen eigenen Körper nicht mehr hinaufzuschaffen vermochte.«
»Du hast ihn seit vierzig Jahren benutzt. Als du damals spürtest, dass dein Augenlicht nachließ und du die Bibliothek nicht länger würdest beherrschen können, hast du planvoll gehandelt. Du hast einen Mann deines Vertrauens zum Abt wählen lassen, du hast dafür gesorgt, dass dein Nachfolger in der Bibliothek erst Robert von Bobbio wurde, den du nach Belieben instruieren konntest, und dann Malachias, der vollkommen von dir abhängig war und keinen Schritt tun konnte, ohne dich vorher zu fragen. Vierzig Jahre lang bist du der heimliche Herrscher dieser Abtei gewesen. Das war es, was die Gruppe der Italiener begriffen hatte, das war es, was Alinardus immerfort wiederholte, doch niemand hörte auf ihn, weil er als schwachsinnig galt, nicht wahr?
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