Die historischen Romane
wir auch anderen Gästen. Angesichts einiger von ihnen gab Belbo Diotallevi leichte Rippenstöße, und Diotallevi kommentierte halblaut: »Ja ja, facies hermetica .«
Genau unter diesen Pilgern mit facies hermetica , ein wenig abseits, auf den Lippen ein bitter-nachsichtiges Lächeln, erblickte ich den Signor Salon. Er lächelte mir zu, ich lächelte ihm zu.
»Sie kennen Salon?« fragte mich Agliè.
»Sie kennen Salon?« fragte ich ihn. »Für mich ist es normal, wir wohnen im selben Haus. Was halten Sie von ihm.«
»Ich kenne ihn kaum. Einige vertrauenswürdige Freunde sagen, er sei ein Polizeispitzel.«
Sieh an, also deshalb wusste Salon von Garamond und von Ardenti. In welcher Beziehung mochte er zu De Angelis stehen? Ich begnügte mich jedoch mit der Frage: »Und was macht ein Polizeispitzel auf einem Fest wie diesem?«
»Polizeispitzel gehen überallhin«, sagte Agliè. »Jede Erfahrung ist für sie nützlich, um vertrauliche Nachrichten zu erfinden. Bei der Polizei wird man umso mächtiger, je mehr man weiß oder zu wissen vorgibt. Und dabei ist es ganz unerheblich, ob die Nachrichten stimmen. Wichtig ist nur, vergessen Sie das nie, ein Geheimnis zu haben.«
»Aber warum wird Salon hierher eingeladen?«
»Mein Freund«, antwortete mir Agliè, »vermutlich weil unser Gastgeber jene goldene Regel des esoterischen Denkens befolgt, nach der jeder Irrtum der verkannte Träger der Wahrheit sein kann. Die wahre Esoterik hat keine Angst vor Gegensätzen.«
»Sie meinen, am Ende sind sich die alle hier untereinander einig?«
» Quod ubique, quod ab omnibus et quod semper. Die Initiation ist die Entdeckung einer Philosophia perennis.«
So philosophierend gelangten wir schließlich zur obersten Terrasse, wo wir einen Pfad betraten, der uns durch einen weiten Garten zum Eingang des Schlösschens führte. Im Licht einer besonders großen Fackel, die auf einer Säule befestigt war, sahen wir eine junge Frau in einem blauen, mit Sternen besäten Kleid, die eine lange Trompete in der Hand hielt, so eine von der Art, wie sie in Opern von Herolden geblasen werden. Ähnlich wie in jenen Krippenspielen, wo die Engel ein Gefieder aus Krepppapier tragen, hatte die Frau an den Schultern zwei große weiße Flügel, dekoriert mit mandelähnlichen Formen, die einen Punkt in der Mitte trugen, so dass man sie mit ein wenig gutem Willen für Augen halten konnte.
Wir sahen Professor Camestres, einen der ersten Diaboliker, der uns im Verlag besucht hatte, den Gegner des Ordo Templi Orientis. Er war kaum wiederzuerkennen, da er sich in einer Weise verkleidet hatte, die uns einzigartig erschien, aber die Agliè als dem Ereignis durchaus angemessen bezeichnete: Er trug einen weißen Leinenrock, gegürtet mit einem roten, kreuzweise über Brust und Rücken geführten Band, sowie einen barocken Dreispitz, auf den er vier rote Rosen gesteckt hatte. Er kniete vor der jungen Frau mit der Trompete nieder und sagte ein paar Worte.
»Wahrhaftig«, murmelte Garamond, »es gibt mehr Dinge im Himmel und auf Erden…«
Wir traten durch ein reich mit Figuren geschmücktes Portal, das mich an den Staglieno-Friedhof in Genua erinnerte. Hoch oben, über einer verschlungenen klassizistischen Allegorie, prangten in Stein gemeißelt die Worte CONDOLEO ET CONGRATULOR.
Innen wimmelte es von angeregt schwatzenden Gästen, die sich um ein Buffet in einer weiten Eingangshalle drängten, von der zwei breite Treppen zu den oberen Stockwerken führten. Ich entdeckte noch andere bekannte Gesichter, darunter den Professor Bramanti sowie – Überraschung – den Commendatore De Gubernatis, den von Garamond bereits ausgebeuteten AEK, der aber anscheinend noch nicht mit der grässlichen Möglichkeit konfrontiert worden war, dass alle Exemplare seines Meisterwerkes im Reißwolf enden könnten, denn er begrüßte meinen Arbeitgeber mit Ausdrücken der Verehrung und Dankbarkeit. Seine Verehrung Agliè zu entbieten, kam ein schmächtiges Männlein mit glühenden Augen gelaufen. An seinem unverwechselbaren Akzent erkannten wir Pierre, den Franzosen, den wir in Agliès Villa durch die Vorhangtür belauscht hatten, als er Bramanti der Hexerei beschuldigte.
Ich trat ans Buffet. Da standen Karaffen mit buntfarbenen Getränken, die ich nicht zu identifizieren vermochte. Ich goss mir etwas Gelbes ein, das aussah wie Wein, es war nicht übel, es schmeckte nach altem Rosolio, doch es war sicherlich alkoholisch. Vielleicht enthielt es auch noch etwas anderes, denn mir
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