Die Wildnis
Ich konnte noch nie gut schreiben. Aber für eine spannende Geschichte bin ich immer zu haben. Das habe ich Jack London zu verdanken. Er hat mir gezeigt, dass es bei Geschichten um Herz und Seele geht, nicht um Rechtschreibung und Wortschatz. Und er hatte Herz und Seele für zwei.
Jack hat mir viele Male das Leben gerettet. Einmal wirklich handgreiflich, als er zwei fiese Typen vertrieben hat, die mich entführen und versklaven wollten. Und dann bei anderen Gelegenheiten über die Jahre hinweg immer mal wieder, wobei er meistens gar nicht anwesend war. Es reichte der Gedanke an Jack. Der Gedanke an seinen Mut, seine Weltsicht, seine Philosophie, dass wir nicht bloß vor uns hin existieren sollen, sondern das Leben bis zum Anschlag leben sollen. Seine Überzeugung, dass es mehr zu entdecken gibt, als man in einem Leben schafft. Manches Sagenhafte, manches Schreckliche. Jack hat beides gesehen.
Wegen ihm bin ich Entdecker geworden, sowohl geistig als auch körperlich. Und ich bilde mir gerne ein, dass ich ihm auf meine bescheidene Weise bei seinen Abenteuern geholfen habe.
Wir wissen alle, was später aus ihm geworden ist: Einer der größten Schriftsteller Amerikas, der wie kein zweiter eine Geschichte schreiben und ihr eine Kraft verleihen konnte, die beinahe … übernatürlich schien. Viele dachten, er schriebe über das Leben, das er selbst gelebt hatte. Doch ich wusste die Wahrheit, denn mir hatte er sie anvertraut: Niemals konnte er niederschreiben, was ihm selber widerfahren war. Es war zu privat, zu persönlich. Und zu grauenhaft. Er hat Dinge gesehen, die nicht für andere Menschen bestimmt waren. Aber mir hat er nie verboten, darüber zu schreiben.
Jack starb viel zu jung. Doch in seinem kurzen Leben hat er soviel erlebt, wie viele Männer zusammen. Und er starb mit dem Wissen, dass es in dieser Welt mehr gibt, als wir verstehen können oder sollen.
Das ist mit ein Grund, warum ich dies hier alles nun endlich aufschreibe. Ich bin jetzt ein alter Mann. Wem wird die Wahrheit jetzt noch schaden? Wird sie überhaupt jemand glauben? In diesen modernen, hochtechnologischen Zeiten, in denen das Wunderliche gar nicht so wunderlich erscheint und die Wildnis gar nicht so wild ist, denke ich, müssen diese Geschichten Gehör finden, so entsetzlich sie auch sein mögen.
Sie sind eine Warnung, auf die wir hören sollten.
Hier also nun die wahre Geschichte von Jack London.
Seine geheimen Abenteuer.
San Francisco
Juni 1962
KAPITEL 1
IN DIE WILDNIS
Jack London stand auf dem Deck der Umatilla und blickte auf den Hafen von San Francisco zurück. Er fragte sich, wann er seine Heimatstadt wiedersehen würde. Er war mit Fernweh im Herzen geboren worden, suchte das Abenteuer und hatte keine Angst vor den Gefahren von Reisen ins Ungewisse. Sobald die Umatilla die Bucht von San Francisco verließ, wäre er unterwegs in den Yukon, fernab der Zivilisation im eiskalten Norden, wo angeblich riesige Mengen Gold entdeckt worden waren und jeder zum Krösus werden konnte.
Doch es war nicht nur das Gold, was Jack in den Yukon lockte. Wenn man ihn vor die Wahl gestellt hätte, wäre er auch nur wegen der Reise selbst gefahren und hätte allein wegen des Abenteuers alles riskiert. Er hatte in seinem abenteuerlustigen Herzen die fixe Idee entwickelt, dass die Wildnis des Nordens auf ihn wartete.
Jetzt lehnte er an der Reling der Umatilla und atmete die Gerüche ein, sah sich das Panorama an und lauschte dem Trubel und dem Chaos um sich herum. Noch nie zuvor hatte er so eine bunte Menschenmischung gesehen. Menschen jeder Herkunft, Rasse und jeden Glaubens waren an Bord. Obwohlder Geruch des Meeres so stark war, konnte man doch ein Dutzend weiterer Düfte ausmachen. Am Steg verkaufte man geröstete Nüsse. Direkt neben Jack stank jemand nach billigem Fusel. Manche rochen nach Gewürzen, Rauch oder Essen, andere hatten dringend ein Bad nötig. Jack war Landstreicher gewesen, Austernpirat und Häftling und hatte Freunde gehabt, die seit Ewigkeiten nicht gebadet hatten. Aber der Gedanke, wie es unter Deck riechen würde, bis sie in Alaska waren, ließ ihn erschaudern.
Man munkelte, der Dampfer hätte doppelt soviel Passagiere an Bord, wie zugelassen waren, und das glaubte man sofort. Jack und Shepard, sein älterer, kränklicher Schwager, hatten ihre Ausrüstung eigenhändig im Frachtraum verstaut und mussten sich dazu durch eine Menge von Goldgräbern, Seeleuten und einfachen Tagelöhnern, aber auch von Söhnen aus reichem Haus
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