Die Hitzkammer
aber Lapidius hatte es fertig gebracht, einen leisen Zweifel in ihm zu säen.
Als hätte er seine Gedanken erraten, sagte Lapidius: »Ihr wisst sicher, dass ein Richter, sofern er nur die geringsten Zweifel hat, verpflichtet ist, bei anderen Gerichtshöfen oder juristischen Fakultäten Rat einzuholen.«
Meckel wollte aufbegehren, doch Lapidius sprach rasch weiter: »In der Halsgerichtsordnung von Kaiser Karl heißt es wie folgt:
Item wo unser Amptlewt Lastner Richter oder Schoepfen in verstandt dieser unser ordnung zweyfenlich wurden soellen sie bey unsern Reten erclerung suchen …«
Meckel holte tief Luft. Er fragte sich, woher dieser Lapidius seine fundierten Rechtskenntnisse besaß, machte sich dann klar, dass er einen überaus gebildeten Mann vor sich hatte, und antwortete schließlich: »Nun ja, das stimmt. Aber es dürfte mindestens drei Wochen dauern, bevor ich auf eine juristische Stellungnahme der hohen Herren aus Goslar hoffen darf.«
»Das trifft sich gut. Eine Syphilisbehandlung im vorliegenden Stadium dauert ähnlich lange, nämlich zwanzig Tage.«
»Wie meint Ihr das?« Meckel verstand nicht.
»Ich meine, dass ich bereit bin, die Kranke zu kurieren, während Ihr auf Antwort aus Goslar wartet. Doch muss ich wohl besser sagen: Ich mache den Versuch, denn die Mortalität bei der Behandlung ist hoch. In jedem Fall würde ich die Säckler bei mir aufnehmen und dafür sorgen, dass niemand sich die Seuche bei ihr holen kann. Ihr wisst sicher, dass die Syphilis äußerst kontagiös ist?«
»Gewiss, gewiss. Ihr seid … äh … ungewöhnlich hilfsbereit.«
»Ich habe meine Gründe.«
»Natürlich.« Meckel konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, welche Gründe das sein mochten, dochfocht ihn das nicht weiter an. Stattdessen wog er rasch das Für und Wider des Angebots ab. Wenn die Angeklagte bei Lapidius untergebracht war, so trug dieser auch die Verantwortung für sie, und zwar gleich in mehrfacher Hinsicht: dafür, dass sie nicht floh, dafür, dass sie niemanden ansteckte, dafür, dass sie keine Hexereien betrieb, und dafür, dass sie wieder gesund und verhandlungsfähig wurde. In welche Richtung Meckel auch dachte, es ergaben sich für ihn nur Vorteile. Und für den Fall, dass etwas passierte: nur Nachteile für Lapidius. Was blieb, war lediglich der Umstand, dass er die zum Prozess gehörende Folter vorschriftswidrig abbrechen musste. Aber das würde er seinen Ratskollegen bei nächster Gelegenheit erklären können. Und zudem: Aufgeschoben war nicht aufgehoben. »Vorausgesetzt, ich würde Eurem Vorschlag zustimmen, Magister: Kann ich auf Eure Diskretion zählen? Es wäre fatal, wenn sich herumspräche, dass die Franzosenkrankheit in der Stadt ist.«
»Ihr habt mein Wort, Herr Richter.«
»Dann bin ich einverstanden. Bitte gebt mir Bescheid, wenn die Behandlung abgeschlossen ist, damit der weitere Prozessverlauf festgelegt werden kann.«
»Das werde ich.«
Sie gaben sich die Hand, und kaum war dies geschehen, verließ Meckel schnellen Schrittes den Raum. Eine gewisse Verlegenheit bemächtigte sich Lapidius’, denn ihm wurde bewusst, dass er mit der nackten Frau nun allein war. Hastig drehte er sich zur Wand. »Bitte, zieh dich wieder an.«
Sie gab keine Antwort, aber er hörte Stoff rascheln. Als er glaubte, sie müsse fertig sein, wandte er sich um und stellte erleichtert fest, dass sie wieder ihren zerschlissenen Rock, das billige Kamisol und die abgewetzte Knopfjacke trug. Er trat auf sie zu und wollte nach ihren tortierten Daumen sehen, doch sie zog die Hände fort. Er zuckte mit den Schultern. »Wie du willst, dann werde ich mir die Verletzungen eben später ansehen. Komm jetzt, ich stütze dich.«
»Ich kann allein gehen!«
Ihre Augen sprühten. Die Farbe erinnerte Lapidius an das Blaugrün von Kupfervitriol. »Ich meinte es nur gut.Mach mir keine Schwierigkeiten. Mein Haus steht ganz in der Nähe.«
Sie lachte. Es war ein kurzes, verächtliches Lachen. »Keine Sorge. Ich tät mit jedem fortlaufen, nur damit ich wegkomm aus diesem Loch.«
»Gut, dann gehe ich vor.«
Er schritt zur Tür, und zu seinem nicht geringen Erstaunen folgte sie ihm auf dem Fuße.
Kirchrode im Oberharz war eine Stadt mit annähernd tausend Einwohnern, darunter Kaufleute, Handwerker und Tagelöhner; die Hauptmasse jedoch bildeten die Bergleute. Ihnen und der durch den Landesherrn erteilten Bergfreiheit verdankte die Stadt ihren Wohlstand. Die Bergfreiheit garantierte vielerlei Privilegien: So waren
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