Die Hitzkammer
er älter wurde, ließ seine Sehkraft nach. Jedenfalls auf kurze Entfernungen. Er seufzte, griff zu einem schön gearbeiteten Federmesser und spitzte einen Gänsekiel an. Dann, nachdem er ihn in ein bereitstehendes Tintenfass getaucht hatte, schrieb er mit akkurater Schrift auf eine neue Seite:
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noch: Die Amalgamation zum Zwecke der Gewinnung von Gold und Silber mittels Quecksilber.
Variatio VI, Montag, 11. Aprilis AD 1547
Abermals kniff er die Augen zusammen. Wenn das so weiterging, brauchte er bald eine Sehhilfe. Er tauchte die Feder erneut ein, als unvermutet heftig an die Tür geklopft wurde. »Was gibts?«, rief er, nicht eben verbindlich. Gewöhnlich war er ein Mann von freundlichem Wesen, doch konnte er es nicht ausstehen, wenn man ihn während der Arbeit unterbrach.
Die Tür wurde aufgestoßen. Marthe, seine Magd, stand da. Sie war ein strammes Weibsbild von siebenundzwanzig Jahren, mit roten Backen, blauen Augen und lockerem Mundwerk. »Herr, ich weiß, dass Ihrs nich gern habt, wennich stör, abers geht nu mal nich anners. Der Büttel is draußen, un es wär sehr dringend!«
»Ja, und?« Lapidius streute Löschsand auf seine Zeilen.
»Inner Folterkammer is ne junge Frau, die hamse gepiesackt, un nu isse ohnmächtich, un es kann nich weitergehn.«
Lapidius beabsichtigte nicht, sich aus der Ruhe bringen zu lassen. »Dass hier in Kirchrode gefoltert wird, ist schlimm genug. Du weißt, dass ich derlei Methoden keinesfalls billige. Aber ich habe nichts damit zu schaffen. Dafür ist der Stadtmedicus zuständig. Er ist approbiert, im Gegensatz zu mir.« Lapidius wollte sich wieder über sein Versuchsprotokoll beugen, doch Marthe ließ nicht locker:
»Der Büttel sacht, der Medicus is krank.«
»Nun gut, dann ist da immer noch der Bader. Möge er der Frau helfen.«
»Der Büttel sacht, der Bader hatn Arm inner Schlinge. Seit gestern. Der kann auch nich. Deswegen, sacht er, isser ja hier.«
Lapidius runzelte die Stirn und fügte sich in sein Schicksal. Es sollte wohl nicht sein, dass er an diesem Vormittag zum besinnlichen Experimentieren kam. »Die Ohnmächtige befindet sich in der Folterkammer, sagtest du?«
»Ja, unten im Keller vom Rathaus, un Ihr möchtet ganz schnell kommen.«
»Gut.« Jetzt, wo Lapidius sich gedanklich von seiner Arbeit getrennt hatte, handelte er rasch. Er richtete seinen hageren Körper zu voller Höhe auf und befahl: »Sage dem Büttel, er soll vorauslaufen. Ich komme gleich nach.«
»Ja, Herr, j a. Ogottogott, is dasne Aufregung! « Marthe drehte sich so schwungvoll in der Tür um, dass ihre gestärkte weiße Haube einen Knick bekam.
Lapidius überlegte kurz. Er war kein Arzt, hatte somit auch keine Instrumente oder Medikamente, die er mit sich führen konnte. Er hatte nur sein Wissen über einige Therapien, die er früher einmal kennen gelernt hatte. Schließlich griff er zu einem irdenen Tiegel und mischte darin Sal ammoniacum und gelöschten Kalk, tat noch ein paar Tropfen vom ätherischen Öl des Lavendels hinzu und verließ mit großen Schritten sein Laboratorium.
Richter Reinhardt Meckel trommelte ungeduldig mit den Fingern auf die große Tischplatte. Er saß mit sechs Schöffen tief unten in den Gewölben des Rathauses und war alles andere als guter Laune. Der Grund dafür war die blonde junge Frau, die vor ihm über den Daumenschrauben zusammengebrochen war. Freyja Säckler hieß sie. Und sie war eine Hexe. Doch das zuzugeben, hatte sie sich hartnäckig geweigert. Es war ihm nichts anderes übrig geblieben, als sie, nach Einverständnis durch den Rat der Stadt, foltern zu lassen.
Meckels Finger schlugen einen Wirbel. Er hoffte, dass die Delinquentin nicht starb. Das würde noch mehr Schreiberei und Fragerei nach sich ziehen als das bloße Tortieren. Und er hoffte, dass der neue Bürger der Stadt, von dem es hieß, er sei unter anderem in der Medizin bewandert, endlich einträfe.
Wie um seine trüben Gedanken zu vertreiben, öffnete sich in diesem Augenblick die schwere Eichentür, und ein hagerer, groß gewachsener Mann trat über die Schwelle. Meckel taxierte ihn. Er wusste, dass der Neuankömmling von Stand war, gebildet, studiert und der Wissenschaft verschrieben. Dazu durchaus vermögend. Das hatte ihm Bürgermeister Stalmann bei einer der letzten Ratssitzungen anvertraut. Der Mann lebte als freier Bürger seit ungefähr einem halben Jahr in Kirchrode, genauer gesagt, in der Böttgergasse, daselbst in einem schmucken dreistöckigen Fachwerkhaus, das
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