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Die Hölle ist die Abwesenheit Gottes (German Edition)

Die Hölle ist die Abwesenheit Gottes (German Edition)

Titel: Die Hölle ist die Abwesenheit Gottes (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ted Chiang
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hundert Jahre zurückerinnern, und unsere schriftlichen Zeugnisse – die wir selbst geschrieben, aber längst vergessen haben – reichen nur einige Jahrhunderte weiter in die Vergangenheit zurück. Wie viele Jahre lebten wir bereits vor dem Beginn der schriftlichen Aufzeichnungen? Woher stammen wir? Es ist die Aussicht, in unseren eigenen Gehirnen Antworten auf diese Fragen zu finden, die die Einschreibungs-Hypothese so verführerisch macht.
    Ich selbst war Verfechter einer konkurrierenden Denkschule, der zufolge unsere Erinnerungen mittels einer Methode gespeichert werden, bei der es ebenso einfach ist, Erinnerungen zu löschen, wie sie aufzuzeichnen: möglicherweise durch die Rotation eines Getriebes oder die Stellung einer Reihe von Schaltern. Gemäß dieser Theorie war alles, was wir vergessen hatten, ein für alle Mal verloren, und unsere Gehirne bargen keine Erinnerungen an die Vergangenheit, die weiter zurückreichten als unsere Bibliotheken. Für diese Theorie sprach unter anderem, dass sie zu erklären vermochte, warum Verstorbene, wenn man sie durch das Einsetzen einer neuen Lunge wiederbelebt, keine Erinnerungen haben, sondern völlig gedächtnislos sind, da der Schock des Todes alle Getrieberäder oder Schalter zurückgesetzt hat. Die Vertreter der Einschreibungs-Hypothese behaupteten, dass durch den Todesschock lediglich die Anordnung der Plättchen durcheinandergebracht würde. Niemand aber wagte es, eine lebende Person zu töten, auch keinen Schwachsinnigen, um diesen strittigen Punkt zu klären. Ich hatte ein Experiment ersonnen, mit dem sich die Wahrheit endgültig ermitteln ließ, aber es war ein gefährliches Experiment, das sorgfältiger Erörterung bedurfte, bevor ich es wagen konnte. Ich war sehr lange unentschlossen, bis ich schließlich erneut von den ungenau laufenden Uhren hörte.
    Ich erfuhr, dass auch in einem entfernteren Bezirk der Ausrufer festgestellt hatte, dass die Turmuhr zur vollen Stunde schlug, bevor er seinen Neujahrsvortrag beendet hatte. Bemerkenswert daran war, dass die Uhr dieses Bezirks mit einem anderen Mechanismus betrieben wurde, bei dem die Stunden durch das Fließen von Quecksilber in einen Behälter gemessen wurden. Hier konnte die Abweichung nicht auf einem einfachen mechanischen Fehler beruhen. Die meisten Leute vermuteten, dass ein Schabernack die Ursache war, ein schlechter Scherz, den Unruhestifter verbrochen hatten. Ich hegte einen anderen Verdacht, einen beunruhigenderen, den ich nicht auszusprechen wagte, der aber mein weiteres Vorgehen bestimmte. Nun hielt ich es für zwingend notwendig, mein Experiment durchführen.
    Das erste Gerät, das ich baute, war äußerst einfach. In meinem Labor montierte ich vier Prismen auf Haltebügeln und positionierte sie mit großer Sorgfalt so, dass ihre Spitzen die Ecken eines Rechtecks bildeten. In dieser Anordnung lenkten sie einen Lichtstrahl zu einem der unteren Prismen, welches das Licht in einer vierseitigen Schleife zuerst aufwärts reflektierte, dann zurück, dann nach unten und zuletzt wieder nach vorne. Somit konnte ich, wenn ich mich mit den Augen auf gleicher Höhe mit dem ersten Prisma befand, meinen eigenen Hinterkopf betrachten. Dieses solipsistische Periskop war die Grundlage für alles Weitere.
    Eine ähnliche, zu meinem erweiterten Gesichtsfeld passende rechteckige Anordnung aus Schaltstangen ermöglichte es mir, auch meine Reichweite zu vergrößern. Die aus Schaltstangen bestehende Vorrichtung war weit umfangreicher als das Periskop, aber immer noch vergleichsweise simpel. Um einiges ausgefeilter allerdings waren die Instrumente, die ich am Ende der jeweiligen Mechanismen anbrachte. An das Periskop montierte ich ein Binokularmikroskop auf einer Armatur, die sich horizontal und vertikal bewegen ließ. Das Ende der Schaltstangen versah ich mit einer Reihe von Präzisionsinstrumenten, auch wenn diese Bezeichnung eine grobe Untertreibung für diese Meisterwerke der Mechanik ist. Dank des Erfindungsreichtums der Anatomen und der durch das Studium körperlicher Strukturen gewonnenen Anregungen ließen sich mit diesen Werkzeugen Bewegungen vollziehen, die man sonst mit den eigenen Händen ausführte, jedoch in einem viel kleineren Maßstab.
    Da ich so sorgfältig wie möglich vorgehen musste, dauerte es Monate, bis ich diese Vorrichtung zusammengebaut hatte. Als die Vorbereitungen abgeschlossen waren, konnte ich mit meinen Händen eine Reihe von Knöpfen und Hebeln vor mir bedienen, mit denen ich die beiden

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