Die hölzerne Hedwig
weiterleben.«
»Na, nun übertreiben Sie aber«, sagte der Kommissar und ignorierte Landmann, der warnend den Kopf schüttelte. »Es ist doch
nur ein Dorf«, fuhr Küchenmeister fort, »hier kann man es doch aushalten. Fernsehen, Internet, Brieffreunde. |287| Und Ihre Sicherheit liegt in den Händen einer bewährten Fachkraft.«
Marvin war gerührt. Als sie ihn rüde wegschickten, um Irena zu suchen, war er immer noch gerührt.
Zwei Nächte hatten die jungen Eltern im Landmann-Haus geschlafen, dann waren sie aufgebrochen. Die alte Karolina hatte für
den Weitertransport gesorgt. Wohin sie wollten? Zurück in die Vereinigten Staaten. Ob sofort oder später – das wussten die
Landmanns nicht. Aber Frau Landmann wusste, dass Hedwig der einzig mögliche Name für das kleine Mädchen sei. Und sie wusste,
wie Hedwigs Eltern nach Europa gekommen waren: an Bord eines Schiffes. Wie Lauras Vorfahren vor 100 Jahren.
|288| SECHSTER TAG
53
Laura und Gregory waren zur Fahndung ausgeschrieben worden. Flughäfen und Schiffshäfen waren informiert, auch außerhalb Deutschlands.
So schnell würden sie ihre Heimat nicht wiedersehen. Und ihr Kind auch nicht. Jedenfalls so lange nicht, bis Gregory sich
stellte. Das war Lauras Dilemma: Kind oder Mann. Mit beiden zusammen würde sie nicht mehr leben können.
Irena hatte sich nicht bei Marvin gemeldet und war auch nicht in die Wohnung auf dem Grundstück der Täuber-Schwestern zurückgekehrt.
Die Kommissare telefonierten mit allen Anlaufstellen im Dorf. Fünf Minuten später rief Kassian zurück. »Wir müssen reden.«
Sie trafen sich an der Hedwigseiche, Kassian hatte auf diesem Ort bestanden. Als sie kamen, stand der ehemalige Journalist
an der Stelle, wo kürzlich offenbar gegraben worden war. Ein Loch, halb so groß wie für einen Sarg. Der Spaten steckte noch
im Erdreich, eine Handvoll Münzen lag im Sand.
»Ich habe nichts angefasst«, sagte Kassian zur Begrüßung.
»Das glauben wir Ihnen aufs Wort«, entgegnete Küchenmeister. »Ist wohl jemand früher aufgestanden. Wo nichts mehr ist, fällt
Verzicht leicht.«
»Ich möchte eine Aussage machen«, kündigte Kassian an. |289| Dass er zu wenig geschlafen hatte, war das eine. Aber er sah insgesamt anders aus als an den vorigen Tagen. Als habe man einige
Knochen herausgezogen, so dass die Statik labiler wirkte.
»Sie hat mich erpresst. Das Wort ist nicht gefallen, aber es war Erpressung, zweifellos. Sie hat behauptet, dass Karl etwas
gegen Bordon plant. Das war vor zwei, drei Wochen. Danach war Ruhe. Gestern Abend tauchte sie wieder auf. Hinten herum, durch
den Wald, sie kann sich bewegen, ohne Zweige zu zerbrechen. Wie Winnetous Schwester. Sie hat gesagt, Karl habe zugeschlagen,
weiß vor Wut. Sie hat gesagt, Karl habe Bordon gehasst, weil Bordon der Agent seines Vaters war. Ich habe ihr Geld angeboten,
wenn sie sofort verschwindet. Ich glaube, ich habe ihr auch den Wagen angeboten. Sie hat gesagt, sie wolle den Schatz. Sie
wissen schon: den Schatz.«
»Nach dem alle seit dem Krieg suchen.«
»Nicht ganz. Seit ein paar Jahren wissen wir, wo er steckt.«
Die Kommissare blickten auf das Loch. Es befand sich keine zehn Meter hinter der Hedwigseiche, der Baum stand zwischen dem
Loch und dem Versammlungsplatz.
»Der Schatz«, sagte Kassian ohne Freude. »Unser dienstältester Fanatiker hat ihn gefunden. Brügge, Ihr Kollege. Sie haben
ihn ja kennengelernt.«
Das war vor sechs Jahren gewesen. Nach jahrelangen Recherchen hatte Brügge das mögliche Versteck immer weiter eingegrenzt.
Lange hatte er den Schatz im Dorf vermutet. Ein Haus, ein Versteck im Boden. Auch eine verträumte kleine Ortschaft steckt
voller geheimer Orte. Dann hatte er angefangen, sich um die Eiche zu kümmern, angeregt von Frau |290| Landmann, der Märchensammlerin. Sie hatte ihm alle Versionen der Sage zur Verfügung gestellt. Er hatte gelesen, welche Kraft
dem Boden zugesprochen wurde, der das Blut der gemeuchelten Hedwig aufgenommen hatte.
»Der Boden, es war der Boden. Je leerer Hedwigs blutender Körper lief, umso mehr von ihr war in der Erde. Dünger, Kraft, ich
bin nicht poetisch genug, um die richtigen Worte zu finden. Jedenfalls laden die ältesten Versionen der Legende den Boden,
auf dem man Hedwig getötet hat, mit ungeheurer Bedeutung auf.«
Brügge habe angefangen zu graben, heimlich, still und leise. Mit zwei Zeugen, damit man ihm nichts nachsagen konnte. Keine
Sekunde war der Mann scharf
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