Die Hüter der Nacht
Blick zu den gerahmten Fotos, die den Tisch zwischen ihrem Sessel und der Couch schmückten, auf dem die Mutter des Jungen saß. Alle Aufnahmen zeigten Michael Saltzman in verschiedenen Posen zu verschiedenen Zeiten seines Lebens. Mit dem Tennisschläger in der linken Hand und dem T-Shirt eines Ferienlagers. In Baseball-Kleidung und Uniform. Bei seiner Bar-Mitzwa, der Einführung in die jüdische Glaubensgemeinschaft. Es gab noch viel Platz für weitere Fotos auf dem Tisch, doch er würde nun für immer leer bleiben.
Danielles Blick verweilte einen Moment auf einer Aufnahme, die Michael zwischen seinen Eltern zeigte, die Arme lässig um ihre Schultern gelegt. Im Licht der Deckenbeleuchtung spiegelte sich Danielles eigenes Gesicht auf dem Glas des gerahmten Fotos. Jetzt, da sie von neuem schwanger war, fand sie Trost bei dem Gedanken, eines Tags ihren eigenen Tisch mit Fotos zu schmücken. Doch der Trost war kurzlebig und schwand, als sie daran dachte, dass auf ihren Bildern der Vater des Kindes fehlen würde.
Danielle betrachtete ihr Spiegelbild. Sie sah eine Fünfunddreißigjährige mit faltenlosem Gesicht, die jünger wirkte, als sie war; eine athletische, kräftige Frau. Das gewellte braune Haar trug sie noch genau so wie damals auf dem College, denn es umrahmte ihr volles Gesicht vorteilhafter als jede moderne Frisur. Wie sonderbar. Trotz ihres beruflichen Ansehens als fortschrittliche Erneuerin war sie – jedenfalls in dieser Hinsicht – der Vergangenheit verhaftet.
»Chief Inspector?«
Von ihren Gedanken abgelenkt, verschob sie die Aktenmappe auf ihrem Schoß, und die Fotos der Gerichtsmedizin fielen heraus und landeten auf dem Teppich. Sie bückte sich, um die Bilder aufzuheben, und sah durch die Glasplatte des Couchtisches, wie sich Layla Saltzmans Miene veränderte, als ihr Blick auf die Aufnahmen fiel. Danielle bemerkte, dass die Frau am Handgelenk eine Männeruhr mit zerkratztem Glas trug.
»Es tut mir Leid«, sagte Danielle und steckte die Fotos hinten in den Aktenhefter. »Nur noch ein paar Fragen, das verspreche ich.«
Layla Saltzman nickte.
»Sie waren am Tag des … Vorfalls nicht anwesend.«
»Ich war zur Arbeit.«
Danielle blickte von neuem auf das Foto, auf dem Michael lächelnd zwischen seinen ebenfalls lächelnden Eltern stand. »Und Ihr Mann?«
»Wir sind geschieden. Er ist zurück in die Vereinigten Staaten. Hat wieder geheiratet, eine Frau mit drei kleinen Kindern. Am Tag nach der Beerdigung ist er zu ihnen zurückgekehrt.«
»Es tut mir Leid.«
Layla Saltzman zuckte die Achseln, als könne sie es nicht mehr hören.
Danielle las weiter in der Akte. »Wann sprachen Sie zum letzten Mal mit Ihrem Sohn?«
»Am Morgen des Tages, an dem er …« Layla Saltzmans Stimme verlor sich, und sie räusperte sich. »Es ging ihm scheinbar gut.«
Danielle nickte und konzentrierte sich wieder auf die Akte. »Ich muss Sie wegen der Waffe befragen, Mrs. Saltzman.«
»Er wusste, wo sie aufbewahrt wurde und wie man sie benutzt. Nur für den Fall. Mein Mann wollte, dass er Bescheid wusste. Angesichts der Kriminalität, die wir hier jetzt haben … Aber ich hatte ganz vergessen, dass wir die Waffe überhaupt besaßen. Vielleicht wäre das nicht passiert, wenn ich mich daran erinnert hätte und das verdammte Ding losgeworden wäre …«
Layla Saltzman rang die Hände. Danielle betrachtete die Frau und sagte sich, dass sie jetzt ebenfalls eine allein lebende Mutter wäre, hätte sie bei ihrer ersten Schwangerschaft keine Fehlgeburt gehabt. Und sie war fest entschlossen, ihr Baby allein aufzuziehen. Doch der Anblick der Frau auf der Couch stimmte sie nachdenklich. Layla Saltzman war jetzt allein und würde es wahrscheinlich auch bleiben.
Der Vater ihres Kindes war sechstausend Meilen entfernt gewesen, als der Junge gestorben war. Der Vater von Danielles ungeborenem Kind hingegen lebte nur 30 Meilen von Jerusalem entfernt, und dennoch hatte sie beschlossen, ihn aus dem Leben ihres Kindes herauszuhalten.
Layla Saltzman hob den Arm und drehte ihn, um Danielle die Uhr mit dem zerkratzten Glas zu zeigen. »Das war Michaels Uhr. Seine Freundin hat sie ihm vor einem Jahr geschenkt. Ich habe daran gedacht, sie ihr zurückzugeben. Meinen Sie, ich soll es tun?«
»Wenn Sie sich dadurch besser fühlen«, antwortete Danielle.
»Es gibt nichts, wodurch ich mich besser fühle, Chief Inspector. Das ist es ja gerade.« Layla Saltzman blickte auf Danielles Aktenhefter. »Steht da drin, was für ein
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