Die Hueterin der Geheimnisse
brauchen die Knochen«, erwiderte Bramble ebenso unnachgiebig. Sie stellten sich einander gegenüber und blickten sich wütend an.
Medric räusperte sich. »Äh … Können wir die Höhlenwesen nicht deswegen befragen?«
»Niemand kann sie herbeirufen!«, sagte Fursey entrüstet.
Er täuschte sich. Natürlich, Dotta hatte gewusst, wie es ging. Beschämt begriff Bramble, dass Dotta sie davor gewarnt, sie dies jedoch vergessen hatte. Sie erinnerte sich noch an etwas anderes, was Dotta ihr gesagt hatte: »Die Beute muss jedoch mit Liebe gerufen werden, sonst kommt sie nicht. Denk daran.«
Waren die Höhlenwesen ihre Beute, oder war sie die ihre? Es spielte keine Rolle. Wieder einmal bewegte sie sich in einer bizarren Welt, wo das Unmögliche notwendig war. Bramble fuhr mit den Händen über die Bilder der Erdgeister, die jemand vor tausenden von Jahren gemalt hatte, und schickte den Ruf hinaus, wie der Jäger es ihr beigebracht hatte, wie der Jäger es getan hatte, mit Liebe. Kommt zu mir, sagte sie stumm, so wie sie stumm gewesen war, als das Rotwild vor seinem Tod zu ihr gekommen war und seine Schnauze an sie gedrückt hatte, so wie sie stumm gewesen war, als der Jäger ihr sein Messer an die Kehle gesetzt hatte, so wie sie stumm gewesen war, als Red das Messer gezogen hatte. Beute oder Jäger, es lief auf das Gleiche hinaus. Kommt zu mir, denn ich brauche euch.
Als Medric aus Angst leise aufschrie, schreckte sie auf. Sie drehte sich um und sah, dass Fursey in die Knie gegangen war, von ihr und Medric durch einen Fluss schwarzer Steine getrennt. Diese bewegten sich unaufhaltsam und füllten
langsam die Höhle. Sie drangen jedoch nicht von außerhalb oder durch Felsspalten ein, sondern kamen aus den Wänden selbst, sich so mühelos aus diesen lösend, wie Bramble sich durch Schnee bewegte, ohne dabei jedoch Spuren zu hinterlassen. Sie waren halb so groß wie Bramble und schimmerten in dem Licht der Laternen wie polierter Granit, doch ihre Oberfläche war rau, nicht glatt.
Sie waren weit merkwürdiger als Wassergeister oder Windgeister, wirkten gefährlich und fremdartig. Bramble grinste sie in der Finsternis an, das vertraute Gefühl der Hochstimmung spürend, und sie trat vor, langsam, um ihnen Zeit zu geben, ihr aus dem Weg zu gehen. Sie bildeten eine Gasse für sie, und durch diese gelangte sie mühelos bis in die hinterste Ecke. Hier stand sie dann wie auf einer kleinen Insel, die von Erdgeistern umgeben war.
»Dort liegen Knochen«, sagte sie mit deutlicher Stimme, »vor tausend Jahren wurden sie hier hineingeworfen. Es sind die Knochen eines Mannes. Ich brauche sie. Die Götter haben mich geschickt, um sie zu bergen.«
Sie hatte keine Ahnung, ob die Höhlenwesen sie verstehen würden. Als sie mit ihren knirschenden Stimmen sprachen, wusste Bramble, dass sie sie nicht verstanden hatten. Sie schaute zu Fursey hinüber.
Er zuckte mit den Schultern. »Ich verstehe sie auch nicht«, sagte er.
Die Höhlenwesen rückten langsam vor und drängten Bramble dabei immer näher an den Schacht. Medric sprang vor und rief laut: »Nein!« Doch es war zu spät. Plötzlich schubsten die Höhlenwesen Bramble an, dass sie fiel. Das Gefühl des Fallens ähnelte den Momenten, in denen sie vom Wasser fortgerissen worden war, und sie zwang sich zu entspannen, wie sie es getan hatte, als sie von der Strömung dorthin mitgerissen worden war, wohin diese sie spülte.
Sie prallte so heftig auf dem Boden auf, dass es ihr den Atem und den Verstand verschlug. Sie blieb in der vollständigen Dunkelheit liegen und sah vor ihren Augen nur noch Flecken und Feuerbälle, Farben und Funken an den Wänden.
Etwas Spitzes stach ihr in den Rücken. Mit Mühe gelang es ihr, es hervorzuholen. Waren es etwa Actons Knochen, auf die sie gefallen war? Sie lachte in sich hinein. Das wäre ein starkes Stück. Sie glitt in einen Dämmerzustand.
»Bramble! Bramble!« Medrics Stimme weckte sie auf.
»Mmmm«, knurrte sie. »Mir geht es gut.« Das war eine Lüge. Ihr ganzer Körper schmerzte.
»Die Höhlenwesen sind weg«, rief er. »Ich lasse eine Kerze hinunter. Hast du eine Zunderbüchse?«
Nein, natürlich hatte sie keine Zunderbüchse. Was für eine dumme Frage.
»Nein«, brachte sie mühsam hervor.
Langsam richtete sie sich auf und blieb mit hängendem Kopf sitzen. Im nächsten Moment schlängelte sich ein dünnes Seil mit einer Zunderbüchse und einer Kerze den Schacht herab und schlug ihr gegen den Kopf.
»O Mist und Pisse!«, sagte sie.
Weitere Kostenlose Bücher