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Die in der Hölle sind immer die anderen

Die in der Hölle sind immer die anderen

Titel: Die in der Hölle sind immer die anderen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Walker Jefferson
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keinen Grund gibt, sich auf ein Auto etwas einzubilden, aber er versteht die Sehnsucht seines Sohnes, der bei Sport und Spiel den anderen unterlegen ist, ein bißchen mit Papas Auto anzugeben. Obwohl Florian mit seiner Beinschiene inzwischen gut gehen kann, hebt Weigandt ihn aus alter Gewohnheit aus dem Wagen, drückt ihn fest an sich und streicht ihm mit der Hand noch einmal über das Haar. Und dann zieht er mit der Geste eines Zauberers, der etwas vollkommen Außergewöhnliches aus einem Zylinder herausholt, zwei Eintrittskarten aus seiner Brusttasche und sagt den letzten Satz, den er in seinem Leben zu Florian sagen wird: Wenn ich wieder da bin, fahren wir ins Euro Disney, nach Paris .
    Florian stößt ein Freudengeheul aus, umarmt seinen Vater und geht dann die Einfahrt zur Schule hinunter. Vor dem Schultor dreht er sich noch einmal um und winkt. Und dabei lacht Florian sein helles, noch ganz kindlich-unbeschwertes Lachen, das augenscheinlich nichts von den Fährnissen des Lebens weiß und sie doch von zig Operationen her kennt. Vor Weigandts geistigem Auge erscheint einen langen Augenblick nichts anderes als dieses Lachen, so, als würde dieser eine Augenblick, der schon so fern ist, ewig andauern, als würde die Zeit einfach stehenbleiben und Florian für immer, lachend und winkend, vor dem Schultor stehen und sein kariertes Hemd und sein Haarschopf vom Wind dieses Herbstmorgens auf ewig bewegt werden. Die Bilder dieses Morgens haben sich unauslöschlich in Weigandts Gedächtnis eingebrannt. Die Erinnerung an Florian ist seine Sonne geworden, die in seinen Gedanken nie mehr untergeht. All seine Gefühle bewegen sich wie Planeten auf ihren immer gleichen Bahnen um diesen einen Fixstern, der seit vielen Jahren nun schon erloschen ist.
    Auf Florians Grab steht ein Strauß Astern, der von den immer dichter fallenden Flocken bedeckt wird. Weigandt nimmt ein Grablicht aus seiner Manteltasche, zündet es an und stellt es vor das Herz aus Efeu, das von der Mitte des Grabes aus nach allen Seiten weiterwuchert. Er hat fast eine halbe Stunde vor Florians Grab gestanden, als er sich abrupt aufrichtet und umdreht. Nachdem er einige Schritte auf dem Kiesweg zurückgelegt hat, dreht er sich nochmal um, winkt dem Grabstein mit der rechten Hand zu und sagt leise etwas zu sich. Dann geht er, ohne sich nochmals umzuschauen, mit schnellen Schritten zum Parkplatz.
***
    Es ist bereits nach elf, als er über die Talbrücke Bischmisheim fährt. Nebelschwaden dampfen aus dem Tal herauf, werden auf Höhe der Brücke vom Wind erfaßt und seitwärts über die Autobahn getrieben, von wo sie wieder in die Schlucht hinabsinken. Regen und Schnee peitschen gegen die Scheibenwischer. Er stellt die Klimaautomatik auf einundzwanzig Grad und schiebt eine CD in den CD-Player. Die Luft im Wagen erwärmt sich langsam, als John Fogerty Lieder aus einem imaginären Louisiana singt. Als Proud Mary zu Ende ist, kommen die Worte, die ihr Autor als Parodie auf eine Südstaaten-Predigt gedacht hat:
    I see the bad moon arising .
    I see trouble on the way.
    I see earthquakes and lightnin'.
    I see bad times today.
     
    Don't go around tonight,
    Well, it's bound to take your life,
    There's a bad moon on the rise.
     
    I hear hurricanes ablowing.
    I know the end is coming soon.
    I fear rivers over flowing.
    I hear the voice of rage and ruin.
     
    Hope you got your things together.
    Hope you are quite prepared to die.
    Looks like we're in for nasty weather.
    One eye is taken for an eye.
    Weigandt hört sich den Song immer wieder an. Er mag die Worte und ihren Sinn. Er spürt, wie das Ziehen in seinem Magen aufhört und die Anspannung in ihm nachläßt. Und er weiß, daß da, wo er heute hinfährt, ein Mann lebt, der nichts ahnt von den Flüssen, die über die Ufer treten; der die Stimmen, die von Zorn und Vernichtung künden, nicht hört; der weder mit schlechtem Wetter rechnet, noch seine Siebensachen gepackt hat, noch erwartet, daß er heute sterben wird.
    Angst und Zagen liegen hinter Weigandt. Er ist ein Mensch, der sein Leben lang vor Auseinandersetzungen, Prüfungen und Wettkämpfen Angst empfand, sich aber immer dazu gezwungen hat, diese zu überwinden. Hatte er sie jedoch einmal gemeistert, dann überkam ihn eine ruhige Entschlossenheit, die ihn kühl und besonnen in Prüfungen und furchtlos und hart in Auseinandersetzungen machte. Und jetzt, da der letzte Kampf seines Lebens bevorsteht, da spürt er eine innere Ruhe, die er seit Florians Tod nicht mehr

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