Die in der Hölle sind immer die anderen
sehen ist, der Boote anzündet, die in einem Mangrovensumpf festgemacht sind. Es ist ein Lieblingsbuch seiner Kindheit, ein Bildband aus der Kaiserzeit, der seinem Großvater gehört hatte, ein Buch, in dem die abenteuerliche Geschichte des Hernan Cortés und der Eroberung Mexikos erzählt wird. Zu Beginn seines Eroberungszuges verbrannte Cortés seine Schiffe, damit ihm und seinen Soldaten jeder Rückweg abgeschnitten war: So hatte er den Erfolg seines Unternehmens gleichsam erzwungen: Er und seine Männer mußten Mexiko entweder erobern oder zugrunde gehen.
Und Weigandt fühlt immer stärker, daß nun auch er seine Schiffe verbrannt und sich jeden Rückweg abgeschnitten hat: Der Tod des Unbekannten auf dem Parkplatz hat sein Schicksal entschieden. Ganz egal, was jetzt noch geschieht: Er kann nur noch vorwärts gehen. Die Würfel sind gefallen. Endgültiger noch als damals in München. München war ein Test gewesen, ein in Wahrheit haarsträubender und schon allein deshalb unwiederholbarer Versuch, ein Hasardspiel, das zufällig geglückt war, so wie beim ersten Mal manchmal etwas glückt, das später nie wieder gelingt. Diese Gedanken beruhigen ihn. Er lehnt sich in den Ledersitz zurück, schaltet den Tempomat ein und fährt in Richtung Mainz.
Der Verdacht, daß er sich getäuscht haben könnte, daß dieses Mal alles anders ist und die Ereignisse seine logische Planung auf den Kopf stellen, kommt ihm erst, als er am Schiersteiner Kreuz die Absperrbaken quer über die Autobahn bemerkt und den darüber kreisenden Polizeihubschrauber sieht.
Kapitel 4
In den Jahren zwischen unserer Hochzeit und Florians Geburt waren Michael und ich vollauf damit beschäftigt, Karriere zu machen. Die Arbeit machte uns Spaß, wir hatten Erfolg und verdienten gutes Geld. Kurz nach unserer Hochzeit wurde ich auch noch für Hessen zuständig. Ich war nun an sechs Tagen in der Woche unterwegs und legte im Jahr fünfzigtausend Kilometer zurück. Michael wurde Partner bei Smith & Wyndham, spezialisierte sich auf Aktienrecht und Firmenübernahmen und machte sich Hoffnungen, in einigen Jahren die Niederlassung in Saarbücken zu leiten.
Unter der Woche sahen wir uns kaum noch. Am Wochenende waren wir beide mit dem Nacharbeiten der vergangenen Woche und gesellschaftlichen Verpflichtungen beschäftigt, zu denen wir häufig alleine gingen. Michael war bei den Wirtschaftsjunioren und ich beim Rotary-Club. Unsere seltenen und kurzen Urlaube verbrachten wir grundsätzlich in einem teuren Resort irgendwo auf der Welt, weil Michael der Überzeugung war, daß man anderswo eigentlich gar nicht Urlaub machen könne. Für ihn gab es ohne Busse, die uns vom Flughafen abholten, ohne vorgebuchte Hotels mit Vollpension und Buffets, unter denen sich die Tische bogen, keinen Urlaub. Mir wäre ein Rucksackurlaub in Thailand oder ein Kanada-Trip mit dem Wohnmobil lieber gewesen.
Die Entfremdung zwischen uns setzte schon damals ein. Keiner von uns unternahm etwas, um sie aufzuhalten. Viele Gemeinsamkeiten hatten wir nie gehabt, nun aber, beschleunigt durch unsere Berufe, drifteten wir immer weiter auseinander. Bald lebten wir wie zwei Singles in einer Wohngemeinschaft mit Putzfrau. Viele Jahre habe ich allein Michael die Schuld für diese Entwicklung gegeben. Erst nach Florians Tod begann ich zu verstehen, daß Michael sich damals auch bemühte, auf meine Interessen einzugehen, nur geschah das bei ihm so, wie er grundsätzlich auf die Wünsche anderer Menschen eingeht, wenn er sie ihnen nicht ausreden kann – schweigend und mit einer glatten, professionellen Selbstverständlichkeit, die ich jedoch als Widerwillen interpretierte. Jahrelang saß er lustlos und mürrisch neben mir im Parkett und ließ von Emilia Galotti über die russische Operngala bis zu West Side Story alles über sich ergehen, was in Saarbrücken geboten wurde, ohne je ein Wort des Mißfallens zu äußern. In Wirklichkeit hätte er lieber Cover-Bands, die alte Rockschnulzen nachspielten, gehört.
Und so gab es viele Situationen im Leben, in denen wir ganz unterschiedlich dachten und handelten. Michael, der mit seinem glasharten Verstand alles, auch uns beide, besser analysierte als ich und es noch besser in Worte fassen konnte, sagte mehrere Male zu mir: Es ist doch erstaunlich, daß zwei intelligente Menschen, die sich grundsätzlich mögen und deren Idealvorstellungen vom Leben gar nicht so weit auseinander liegen, sich Tag für Tag so schlecht verstehen können
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