Miss Mary und das geheime Dokument
1
Die Turmuhr der Great St. Mary’s Church in Cambridge schlug gerade zur halben Stunde an diesem grauen, düsteren Oktobermorgen des Jahres 1795. Es regnete zwar nicht mehr, doch dicke Wolken kündigten bereits neue Schauer an, und von Norden blies ein Wind, so schneidend wie im Winter. Kurzum, es war jene Art von Morgen, an dem jeglicher Wissensdurst erlosch und es in den Läden an der King’s Parade wohl noch für mindestens eine Stunde dunkel blieb.
Dennoch herrschte ein geschäftiges Treiben auf den Straßen, sogar einige Kutschen waren zu sehen, und im Eagle, der bekannten Kutschstation, war so ein Gedränge und der Lärm der Gäste derart ohrenbetäubend, dass selbst die Glocken der Universitätskirche nahezu ungehört verhallten.
Draußen versuchte eine junge Frau zunächst vergeblich, die Tür des Eagle zu öffnen, weil sich jemand von innen dagegenlehnte, aber schließlich gelang es ihr doch hineinzuschlüpfen. Sie trug einen Reisemantel und einen schwarzen Dreispitz. Bei weniger Trubel hätte ihre Kopfbedeckung sicherlich für einiges Aufsehen gesorgt. Ihre übrige Kleidung dagegen ließ auf eine in vornehmer Armut lebende, sparsame Frau schließen: Der Mantel war abgenutzt, der Saum aufgerissen, das Paar Stiefel ein weiteres Mal besohlt, und am Strickschal hatten sich ungeschickte Finger zu schaffen gemacht, von denen einer aus einem Loch im Handschuh hervorlugte. Demgegenüber kam der Dreispitz einer Revolution gleich, denn ein solcher Hut war nicht unter zehn Shilling zu haben. Und wie er da so keck auf ihren kastanienbraunen Locken saß, zeugte er von einer Unabhängigkeit des Geistes, der trotz widriger Umstände noch nicht gezähmt worden war. Im Tumult der Gaststube blieb dies alles jedoch unbeachtet.
Nur ein Mann nahm Notiz von der Frau, und zwar, weil er sie kannte: Dr. Smithson Nichols. Er war Fellow am Trinity College, und abgesehen von dieser Tatsache schenkte er gemeinhin recht wenigen Dingen Beachtung. Die junge Frau am Eingang wies jedoch eine verblüffende Ähnlichkeit mit einer der Lehrerinnen im nahe gelegenen St. Ives auf, wo auch Miss Nichols, seine Schwester, eine Anstellung hatte, und so winkte er ihr nachdrücklich zu. Und da der Mann neben ihm eine besonders übel riechende Zigarre rauchte, schickte er sich sogar an, durch den Raum auf sie zuzugehen und sie anzusprechen.
»Ah, Sie sind doch Miss Finch, hab ich recht?«, hob er an, als er bei ihr angelangt war. »Grüße von der Alma Mater. Wie ich sehe, sind Sie nicht in Begleitung meiner lieben Schwester, aber ich hoffe doch, alles ist beim Alten? Mrs. Bunburys Schule ist doch nach wie vor die unangefochtene Nummer eins in Sachen weiblicher Erziehung, nicht wahr?«
Mary Finch mochte weder Dr. Nichols noch seine liebe Schwester, aber sie fühlte sich derart unwohl, dass sie ihm einen freundlicheren Blick schenkte, als sie es sonst getan hätte. Selten war sie zuvor in einem so lärmenden Gasthaus gewesen, und Dr. Nichols’ Gesicht hatte wenigstens etwas Vertrautes - auch wenn er ein aufgeblasener Schwätzer war.
»Ja«, antwortete sie und bemühte sich, seine geistreiche Bemerkung mit einem Lächeln zu würdigen, »uns geht es allen gut, nur … ich … unternehme eine Reise.«
»Eine Reise?«, wiederholte Dr. Nichols. Er wollte sich das Wort auf der Zunge zergehen lassen, aber es hatte einen faden Beigeschmack. »Verstehe.«
Für Mary bestand keine Veranlassung, Dr. Nichols etwas zu erklären, aber sein Tonfall legte ihr nahe, es dennoch zu tun. Vielleicht war sie auch selbst besorgt ob ihres Vorhabens und wollte sich rechtfertigen. Jedenfalls beantwortete sie seine unausgesprochene Frage. »Ja, um meinem Onkel, Mr. Edward Finch, meine Aufwartung zu machen. Er besitzt ein Gut in Suffolk und hat mich zu sich eingeladen. Sie können alles darüber in Carys Atlas nachlesen - über das Gut, meine ich.«
Gleich darauf kam Mary sich töricht vor, und Dr. Nichols runzelte die Stirn angesichts ihrer Unterstellung, er läse eine derartig gewöhnliche Publikation. »Tatsächlich«, antwortete er überheblich. »Ich bin sicher, es muss für einen Gutsbesitzer äußerst befriedigend sein, zu wissen, dass sich die Leser des Atlas für die Abflussrohre in seinem Haus interessieren.« Und nach einer kurzen Pause fügte er noch hinzu »Wer immer die auch sein mögen.«
»Ja …« Mary sah sich um und dachte dabei, dass Dr. Nichols noch unangenehmer war als seine Schwester. So wie er redete, konnte man meinen, er wäre der Duke of
Weitere Kostenlose Bücher