Die Indoeuropäer: Herkunft, Sprachen, Kulturen
3. Jahrtausend v. Chr., lange vor der Immigration der Arier (nach Parpola 1994: 227)
Indoeuropäisierung. Die indoeuropäische Sprachfamilie gehört zu den am besten erforschten weltweit, die Entwicklungsprozesse historischer Einzelsprachen können über einen Zeitraum von mehr als 6000 Jahren zurückverfolgt werden. Die Rekonstruktion einer indoeuropäischen Grundsprache reicht zeitlich noch weiter zurück, bis um 7000 v. Chr. Anhand von Vergleichen des Wortschatzes, des grammatischen Baus und des Lautsystemsder mehr als 400 indoeuropäischen Einzelsprachen ist es möglich, die Phonetik, die Grundzüge der Grammatik und elementare Bezeichnungsbereiche des Proto-Indoeuropäischen zu rekonstruieren – ein theoretisches Konstrukt, da es darüber keine historische Dokumentation gibt.
Die schriftsprachliche Überlieferung setzte erst zu einer Zeit ein, als sich die Grundsprache längst in regionale Sprachzweige ausgegliedert hatte. Die indoeuropäischen Schriftsprachen mit der ältesten Tradition sind das Mykenisch-Griechische (bezeugt seit dem 17. Jh. v. Chr.), das Hethitische (bezeugt seit dem 16. Jh. v. Chr.) und das Luwische (bezeugt seit dem 16. Jh. v. Chr.). Daher werden sämtliche Formen und Ausdrücke der rekonstruierten Grundsprache mit einem Asterisk (Sternchen) versehen, um sie von belegten Formen zu unterscheiden; z.B. ∗
septm
‹sieben› > altir.
sechtn,
mittelkymr.
seith,
latein. s
eptem,
altnord.
sjau,
altengl.
seofon,
got.
sibun,
litau.
septynì,
altkirchenslav.
sedmi,
russ.
sem’,
alban.
shtatë,
griech.
hepta,
armen.
ewt’n,
hethit.
sipta-,
avest.
hapta,
altind.
saptá,
tochar.
spät
u.a.
Aber das Indoeuropäische ist nicht nur graue, schemenhafte Vorgeschichte. Im Gegenteil: Der wohl markanteste Faktor in der Geschichte der Kulturlandschaften Europas ist die Indoeuropäisierung, die Ausbreitung indoeuropäischer Kulturen und Sprachen. Dieser Prozess, der mit der Konsolidierung des Proto-Indoeuropäischen in der Vorgeschichte (um 7000 v. Chr.) beginnt und sich mit den Abspaltungen regionaler Sprachzweige seit ca. 4500 v. Chr. fortsetzt, ist nicht nur charakteristisch für Europa, sondern auch für das südliche Asien, in einer breiten Zone, die sich von Anatolien über das iranische Hochland und Zentralasien bis nach Indien erstreckt. Dieser Prozess der Indoeuropäisierung ist nicht als Ablösung «primitiver» Kulturen durch solche der Indoeuropäer misszuverstehen, denn einige der vorindoeuropäischen Zivilisationen waren Hochkulturen, und zwar die Donauzivilisation und die alte Indus-Zivilisation (bzw. Harappa-Kultur). Städtische Siedlungen, Schriftverwendung und Metallverarbeitung waren Errungenschaften der Alteuropäer und Alt-Draviden, lange bevor Indoeuropäer in jenen Regionen heimisch wurden.
Die Indoeuropäisierung hat ältere Sprach- und Kulturschichten nicht einfach überdeckt oder verdrängt, sondern vielfältige Transformationsprozesse in der sprachlich-kulturellen Landschaft Eurasiens initiiert – eine Umschichtung der Vielfalt, nicht aber ihre Auflösung. Die Kulturen Europas und Asiens, die als Folge der Indoeuropäisierung entstanden, sind Mosaikkulturen, die alte (vorindoeuropäische) und neue (indoeuropäische) Elemente in sich vereinigen.
Die Kontakte zwischen indoeuropäischen und nichtindoeuropäischen Sprachen sowie daraus resultierende Assimilationsprozesse dauern an. Dabei sind indoeuropäische Sprachen häufig dominant. Dies gilt nicht nur für die globale Modernitätsikone Englisch – genauer: ihrer Varianten, der «Englishes of the world» (Kachru 2006) –, sondern beispielsweise auch für den situationellen Druck, den das Spanische und Französische seit langem auf das Baskische ausüben oder für die Assimilationsprozesse, die das Russische bei den finnisch-ugrischen Minoritätssprachen im europäischen Teil der Russischen Föderation bewirkt (Kolga et al. 2001).
Multikulturalität ist für uns Europäer heute eine Selbstverständlichkeit. Ihre anthropologische, sprachliche und soziokulturelle Binnenstruktur als Ergebnis interaktiver historischer Prozesse zu begreifen, ist es noch nicht (Haarmann 1995b). Heute zeigen uns wissenschaftliche Erkenntnisse, dass die seit Jahrtausenden anhaltende Indoeuropäisierung dabei eine zentrale Rolle spielt.
1. Auf der Suche nach der Urheimat
Die Ursprünge der kulturellen und sprachlichen Vielfalt Europas lagen lange Zeit im Dunkeln. Das hing zum einen damit zusammen, dass einfach zu wenig
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