Die Indoeuropäer: Herkunft, Sprachen, Kulturen
Sprachursprungsforschung (Glottogonie). Obwohl es solche Forschungen seit über hundert Jahren gibt, waren sie zwischenzeitlich fast in Vergessenheit geraten, haben aber in den 1990er Jahren, und zwar unter dem Eindruck der Fortschritte der Humangenetik, einen enormen Aufschwung erlebt. Inzwischen ist die Auseinandersetzung mit der Wechselbeziehung zwischen Sprachgeschichte und Evolution fast zu einem Modetrend geworden. Die Erforschung der Verzweigung menschlicher Populationen und der Ausgliederung von deren Sprachen gehen Hand in Hand. Auch die Rolle der indoeuropäisch-uralischen Konvergenzen konnte inzwischen präzisiert werden (Carpelan et al. 2001, Haarmann 2006: 242ff., Anthony 2007: 93ff.).
Es ist anzunehmen, dass die Populationen, die indoeuropäische und uralische Sprachen sprachen, Tausende von Jahren nicht nur in Nachbarschaft, sondern auch in Kohabitaten lebten, bevor sich die Indoeuropäer zu ihren Migrationen aufmachten. Das ökologische Szenario im östlichen Europa erlaubt eine Datierung der Anfänge einer gemeinsamen Sprach- und Kulturentwicklung für den Zeitraum gegen Ende der letzten Eiszeit (ca. 15000–10000 v. Chr.). Der proto-indoeuropäische und der proto-uralische Komplex waren die westlichen Ausläufer eines weiträumigen Areals, in dem Sprachen der eurasiatischen Urfamilie (ancient Eurasiatic super phylum) verbreitet waren (Greenberg 2000–2002).
Die gemeinsame Sprach- und Kulturentwicklung setzte sich noch bis ins 7. Jahrtausend v. Chr. fort, dann allerdings erfolgte ein Abdriften des südlichen (d.h. proto-indoeuropäischen) Komplexes, der schließlich sprachlich und kulturell Eigenprofil annahm. Die divergente Entwicklung des Proto-Indoeuropäischen hat mit tiefgreifenden Wandlungen in der Ökologie Osteuropas zu tun. Dem Wasserreichtum nach der Eisschmelze im 10. und 9. Jahrtausend v. Chr. folgte eine Periode kontinuierlicher Austrocknung, und bis zum 7. Jahrtausend v. Chr. waren bereits die typischen Vegetationsgürtel der Landschaften Südrusslands und der Ukraine entstanden: Steppe undWaldsteppe. Die Proto-Uralier in den nördlichen Wäldern setzten ihre traditionelle Kultur als Jäger, Fischer und Sammler fort, während die Proto-Indoeuropäer im Süden einen Wechsel zum Viehnomadismus vollzogen. Das Pferd, das in der nomadischen Weidewirtschaft und in der indoeuropäischen Mythologie eine zentrale Rolle spielen sollte, wurde früh im Gebiet zwischen Wolga und Don domestiziert (Dergachev 2007: 461f.).
2. Lebenswelten der frühen Indoeuropäer
Im ursprünglichen Siedlungsgebiet der Indoeuropäer ist eine vielschichtige Abfolge verschiedener Kulturen in Zeit und Raum zu erkennen. Der charakteristische Indikator für die Identifizierung dieser regionalen Kulturen sind ähnliche Bestattungsformen. Es herrschten Grubengräber, später Kammergräber vor. Über der Grabstätte war ein Erdhügel aufgeschüttet. Dies sind die Kurgane, deren areale Verbreitung wichtige Anhaltspunkte für die Urheimatforschung vermittelt hat (s. Kap. 1). Jede der regionalen Kulturen der Steppennomaden zeichnet sich durch Besonderheiten aus, die das Eigenprofil der Proto-Indoeuropäer geprägt haben.
Elshan-Kultur
(7. Jahrtausend v. Chr.) an der mittleren Wolga: Dies ist die erste Steppenkultur, für die sich die Herstellung von Keramik nachweisen lässt. Die Anfänge der alternativen «neolithischen Revolution» (d.h. Töpferei ohne Ackerbau) in Osteuropa sind im Areal der Elshan-Kultur zu suchen.
Samara-Kultur
(ca. 6000–5000 v. Chr.) im Tal des gleichnamigen Nebenflusses der Wolga: Diese Regionalkultur der Steppennomaden ist bekannt geworden wegen der ältesten figürlichen Darstellungen von Pferden (s. Abb. 3).
Chvalynsk-Kultur
(zwischen 5000 und 4500 v. Chr.) im Steppen- und Waldgürtel der mittleren Wolga: Von dieser Region aus hat sich ein bestimmter Typ eines Statussymbols(Szepter) mit Pferdekopfverzierung nach Süden (ins Kaukasusvorland) und nach Westen (in die pontische Steppe) ausgebreitet (s.u.).
Srednij Stog
(ca. 4500–3350 v. Chr.): Die Vertreter dieser westlichen Steppenkultur waren die ersten Indoeuropäer, die mit den Ackerbauern im Areal der Trypillya-Kultur in der Ukraine in Kontakt traten (s.u.)
Jamnaja-Kultur
(ca. 3600–2200 v. Chr.): Diese Grubengräber-Kultur erstreckte sich von der mittleren Wolga bis ins Kaukasusvorland, im Nordwesten bis zur Trypillya-Kultur und im Südwesten bis nach Moldawien. In diesem Stadium, in das sich die
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