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Die Indoeuropäer: Herkunft, Sprachen, Kulturen

Die Indoeuropäer: Herkunft, Sprachen, Kulturen

Titel: Die Indoeuropäer: Herkunft, Sprachen, Kulturen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harald Haarmann
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Informationen ermittelt, wer die Sprecher bestimmter Sprachen waren und woher sie kamen; dies gilt beispielsweise für die Sprecher des Tocharischen (s. Kap. 6). Die Verwandtschaft der Sprachen Indiens und Europas war der Ausgangspunkt für Beobachtungen über den Zusammenhang einer ganzen Sprachfamilie, und erst später beschäftigte sich die Forschung mit den kulturellen Traditionen und der Mythologie ihrer Sprecher. Die indische Mythologie wurde bereits von den Sprachforschern im frühen 19. Jahrhundert untersucht. Eine ernstzunehmende Archäologie der alten indoeuropäischen Völker entwickelte sich erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit den Ausgrabungen der hethitischen Hauptstadt Hattusa. Und die frühen Nomadenkulturen der Steppenregion Südrusslands und Zentralasiens sind erst in den vergangenen Jahrzehnten systematisch erforscht worden.
    Die Benennung der indoeuropäischen Sprachen stammt aus dem 19. Jahrhundert. Thomas Young war in der englischsprachigen Welt der erste, der im Jahre 1813 den Begriff «Indo-European» verwendete. In der älteren deutschsprachigen Tradition nennt man diese Familie «indogermanisch», ein Ausdruck, der dem Zeitgeist der Romantik entsprang und zuerst 1823 von Friedrich von Schlegel verwendet wurde. In Franz Bopps vergleichender Grammatik aus dem Jahre 1816 ist von «indisch-europäischen» Sprachen die Rede. In beiden Namenformen weisen die Komponenten jeweils auf die Peripherien des Verbreitungsgebiets, die östliche (indo-) und die westliche (germanisch bzw. europäisch), hin. Wollte man das Kriterium der geographischen Ausdehnung exakt anwenden, müsste die Sprachfamilie das Attribut «indoromanisch» erhalten, mit Bezug auf die Pyrenäenhalbinsel im Südwesten, oder aber «indokeltisch», wenn man die Situation im extremen Nordwesten Europas berücksichtigt, wo keltische, nicht germanische Sprachen verbreitet sind. In dermodernen deutschsprachigen Terminologie kann man eine Tendenz zur Angleichung an internationale Benennungen feststellen: dt.
indo-europäisch
als Äquivalent zu engl.
Indo-European,
franz.
indoeuropéen,
ital.
indoeuropeo
oder russ.
indoevropejskij.
    Auch wenn die Zusammengehörigkeit der verschiedenen regionalen Sprachgruppen (d.h. indische, germanische, slawische Sprachen, Griechisch, Lateinisch usw.) früh erkannt wurde, kursierten noch lange allerlei Spekulationen über die «Urmutter» der Sprachen. Das Sanskrit mit seiner uralten schriftsprachlichen Tradition schien ein guter Kandidat zu sein, und jahrzehntelang gingen die Forscher davon aus, dass sich alle indoeuropäischen Sprachen von dieser Quelle ableiten. Entsprechend galten als Träger dieser Kultur und Urahnen aller Europäer die Arier (nach ihrer Selbstbezeichnung
Arya).
Erst in den 1870er Jahren, durch die Arbeiten der Junggrammatiker, gelangte die historisch-vergleichende Sprachwissenschaft zu der Erkenntnis, dass das Sanskrit selbst die Tochtersprache einer Ursprache ist: des «Proto-Indoeuropäischen», damals auch «Ur-Indogermanisch» genannt.
    Der Ariermythos. Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, wenn die Begriffe «indogermanisch» und «arisch» miteinander verquickt und quasi wie Synonyme gebraucht wurden. Die Verherrlichung arischer Kulturtraditionen war nicht nur eine Triebkraft nationalen Selbstwertgefühls bei den indischen Ariern selbst (s. Kap. 5), das Prestige des Ariertums wurde auch von anderen Völkern usurpiert, besonders bei den Europäern. Vor allem bei den germanischen Völkern war der Arierkult seit dem 19. Jahrhundert populär (Marchand 2009).
    Die Selbstidentifizierung der Europäer als Arier im Sinn einer Völkerbezeichnung war – entgegen allen neuen sprachwissenschaftlichen Erkenntnissen – fest im westlichen Kulturbewusstsein verwurzelt. Eurozentrische Spekulationen und völkische Mystifizierungen prägten einen Zeitgeist, der auf ethnisch-rassische Segregation abzielte. Damit standen die Deutschen nicht allein. Auch französische und britische Intellektuelle werkelten am Fundament einer europazentrierten Rassenkunde. JosephArthur Gobineau legte mit seiner Studie über die Ungleichheit der Rassen («Essai sur l’inégalité des races humaines», 1853–55) die Grundlagen für den Mythos von der Überlegenheit der arischen Rasse, und der Begründer des Sozialdarwinismus, Herbert Spencer («Social statics» von 1851, «Synthetic philosophy», 1896), untermauerte den vermeintlichen Anspruch auf Weltherrschaft der weißen Rasse. Dieses Ideengut fand

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