Die innere Freiheit des Alterns
allem aber die Freundinnen und Freunde, die womöglich sogar unsere Ursprungsfamilie noch gekannt, die unsere Schul- und Studienzeit und vielleicht andere wichtige Lebensabschnitte begleitet haben. Wenn wir uns an unsere Wurzeln und unsere frühen und späteren Aufbrüche gemeinsam erinnern können, bedeutet das jetzt viel. Es gilt ja, unser Leben »einzuholen«, mit allem, was dazugehört, und das ist vor allem die Erinnerung.
Es kommt darauf an, uns selbst jetzt annehmen zu können, in dem, was wir mitgebracht haben, aber auch in dem, was wir geworden sind; in dem, was wir verwirklichen, aber auch in dem, was wir nicht verwirklichen konnten – von alledem, was in uns angelegt ist und von dem auch die frühen Freunde etwas wissen, mit denen wir es teilen können.
Einem Mann, Ende sechzig, der ein beratendes Gespräch über Berufsplanung mit mir führen wollte, kamen fast die Tränen, als ich ihm nahezubringen suchte, es käme jetzt doch vor allemdarauf an, sich selbst und sein Leben akzeptieren zu lernen, wie es denn geworden war, auch ohne dauerhafte Berufsausübung, sich damit aussöhnen zu lernen. Er war aber eigentlich deshalb gekommen, weil er meinte, durch eine Therapie sein Leben, in dem er aus bestimmten Gründen nie zu einer befriedigenden Berufsausübung gekommen war, noch einmal von vorne beginnen zu können. Er haderte heftig mit dem, was ihm nicht gelungen war. Dabei würde es für ihn ja auch eine denkbar große Veränderung bedeuten, eine Umkehrung seiner ganzen bisherigen Lebenseinstellung, wenn er damit begönne, sein gelebtes Leben in allen Verlusten und Gewinnen anzunehmen. Nur dann könnte er die Hände freibekommen für das, was sich eben jetzt noch entwickeln wollte, zum Beispiel eine wissenschaftliche Studie, die er schon lange geplant und für die er viel relevantes Material gesammelt hatte.
Wer sein Leben ausgesöhnt beschließt, auch mit dem Fragment, das es in manchem geblieben ist, hat das Lebensspiel letztlich gewonnen. Archäologen und Kunsthistoriker wissen den Wert eines Fragments zu schätzen – und so könnten auch wir darin den guten Entwurf schätzen lernen, der unserem Leben abzuspüren ist, wenn wir es mit Liebe und Sachverstand betrachten, auch wo es unvollendet ist.
Dies zu verstehen, annehmbar zu machen, ist das Ziel aller Selbstreflexion im Alter, auch der Therapien mit alten Menschen, die man heute nicht mehr überflüssig findet, seit man weiß, dass sich der Mensch – und damit sein Gehirn – ein ganzes Leben lang entwickelt und lernfähig bleibt und dass sein Erinnerungsvermögen und sein in dieser Hinsicht schöpferisches Gedächtnis ihm hilft – zum Beispiel in einer »Lebensrückblick-Therapie«, wie Verena Kast 5 sie ausgearbeitet hat –, aus den erinnerten Bruchstücken seines Lebens ein sinnvolles und befriedetes Ganzes zu machen.
Was sich nun entwickeln will, ist ein Leben im Jetzt von ganz neuer Qualität, das man nach einem Wort Meister Eckharts als ein »Leben ohne Warum« verstehen könnte – ein Leben, das vom Sein getragen ist, nicht länger vom »Haben« (ErichFromm) und vor allem nicht länger von primär der Leistung, die man noch erbringen oder auch nicht mehr erbringen kann –, denn alles Haben und Habenwollen, alles Leisten und Leistenwollen ist von nun an der Vergänglichkeit preisgegeben. Zu leben um des Lebens willen, aus keinem anderen Grund, dies gilt es jetzt zu wagen, zu erlernen. Die kostbare Zeit ist kurz und ist es wert, dass man sie mit dem wirklich Lebens- und Erlebenswerten erfüllt.
Es ist Zeit für die Frage: Wer bin ich eigentlich dann, wenn ich »nichts« bin? Nichts mehr im Blick auf Leistung, Rolle und Geltung – sondern einfach ein Mensch, der lebt, der gelebt hat und der leben darf.
Aus dieser Perspektive, die für unser Menschenbild überhaupt, nicht nur im Alter, entscheidend ist, kann ich mein Leben sogar noch nach einer neuen Seite hin, die bei manchen im Getriebe der täglichen Arbeit zu kurz gekommen ist, intensivieren: nach innen hin, im Blick auf meine Individuation, im Blick darauf, ob ich »auf Unendliches bezogen« 6 bin oder nicht – nach Jung die einzig wichtige Frage im Leben, der ich mich auch in der späten Phase noch einmal neu stellen kann.
C. G. Jung hat einen schönen Vergleich gebracht, wohl wissend, dass er hinkt – aber nicht mehr, als alle Vergleiche hinken, so meint er –, nämlich, dass die sinkende Sonne zwar an abstrahlender Hitze verliere, dafür aber umso intensiver von innen her zu
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