Die innere Freiheit des Alterns
besonderen Chance werden, nämlich: die jeweilige Beziehung noch einmal ganz aufleben zu lassen, voll zu durchleben, auszukosten in ihrem besonderen Geschmack und ihrem besonderen Klang. So konnte ich ein Ehepaar durch die letzten Monate begleiten, die der an einem schon rezidivierenden Melanom erkrankte Mann noch zu durchleben hatte. Diese Ehe, der drei nun erwachsene Kinder entsprungen waren, eine Ehe, die durch dick und dünn bis zur Silberhochzeit von beiden durchgetragen worden war und die natürlich auch – durch viel Alltagsroutine und die berufliche Belastung beider Partner – Patina angesetzt hatte, vermochte zu ungeahnter Intensität aufzublühen, da die beiden unter dem Druck der Bedrohung ihre Gefühle füreinander neu und frisch entdeckten und sie sich – wie noch nie zuvor in ihrem Leben – auch mitzuteilen und auszutauschen vermochten. Dabei wurden nicht nur die Gefühle der Liebe, der Zärtlichkeit, der Dankbarkeit füreinander lebendig und aussprechbar, sondern es kam zu einem neuen Erleben von Kreativität – der erkrankte Partner zeichnete, malte und gestaltete bewegende Bilder bis zur letzten Woche vor seinem Tod –, kam zum Erleben einer neuen tiefen Emotionalität überhaupt, die das gemeinsame Erfahren von Natur, Kunst und Spiritualität einschloss und einen spontanen Austausch darüber ermöglichte. In der letzten Phase des großen Lebensspiels wurde das Spieldieser Ehe, das manchmal unter dem Staub des Alltags schon grau geworden und zu ermatten drohte, souverän gewonnen. Die Ehefrau trägt die Erinnerung an ihren Mann und an diese Zeit bis heute als Schatz im Herzen, zusammen mit der bewegenden Bilderserie, die er in der letzten Phase seiner Krankheit gestaltet hatte.
So manche der Frauen, die ich mit begleitete, wuchs in den letzten Lebensmonaten ihres Mannes über sich hinaus, holte ihn nach Hause, nachdem er in der Klinik als »austherapiert« galt, mit Sonden im Magen und Atemgerät, und pflegte ihn an Leib und Seele bis zum letzten Moment. Doch weiß ich Ähnliches auch von Männern, die ihre sterbende Frau niemals im Stich ließen.
Intensivierung der Beziehung also während der letzten Lebensphase, das ist es, was die Beziehung gültig und kostbar macht, auch über den Tod des Partners, der Partnerin hinaus, wenn sie in den Seelenraum des Zurückbleibenden hineingenommen wird. Trauer sieht anders aus, wenn eine Beziehung »erfüllt« war.
Die letzte Lebenszeit ist deshalb aber auch die Zeit für Aufarbeitung und Versöhnung all dessen, was in einem Leben oder einer Beziehungsgeschichte liegen geblieben ist. Weil so manches wieder heraufsteigt aus unserer Lebensgeschichte, kann es wichtig werden, auch da genau hinzusehen, wo vielleicht etwas Unverarbeitetes zurückblieb. Für manche wird es erst jetzt möglich, sich mit den Eltern auf einer letzten Ebene auszusöhnen – ob sie nun noch am Leben sind oder nicht. Mancher sehr alte Vater, der vielleicht früher recht dominant und herrisch sein konnte, wird milder im Alter, manche herbe Mutter wärmer. Wie rührte mich mein Vater, als er nach Mutters Tod auf einmal Blumen vermisste und ins Haus brachte, die er früher doch oft eher als Staubfänger und sperrige Gegenstände in der Wohnung betrachtet hatte. So träumte auch ich nach seinem Tod einmal von ihm, dass er ausriefe: »Und Blumen sind so schön!« Dabei meinte er zugleich die warme Naturverbundenheit und den Schönheitssinn seiner Frau,mit der er sich im Alter auch lange nach ihrem Tod wieder neu verbunden fühlte.
Auch die Lebensgeschichte unserer Eltern erscheint auf einmal in ganz neuem Licht, wenn wir selber in dem Alter sind, in dem sie damals waren, in all seinen Bedingtheiten und den jeweiligen Umständen zeitgeschichtlicher und auch familiengeschichtlicher Art: Wir sehen die Grenzen, Begrenztheiten eines Lebens, eines Charakters, einer persönlichen und beruflichen Entwicklung, einer Beziehungsfähigkeit, bei unseren Eltern wie bei uns selbst.
Im Alter spätestens lernen wir uns selber anzunehmen in unserem So-Sein, So-Gewordensein; jetzt jedenfalls kommt es wirklich darauf an, sich als die zu erkennen und sein zu lassen, die man geworden ist. Es kommt darauf an, sich selbst gut zu sein, auch bei den spezifischen Schwächen, mit denen unsere Lebensgeschichte und unser Charakter uns »gesegnet« haben. Wie sagte es nicht Ingeborg Bachmann so treffend: »Den einen Fehler immer wieder machen, den Fehler, mit dem man ausgezeichnet ist.«
Wichtig bleibt dabei, um
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