Die Insel der Verlorenen - Roman
mussten: das Warten, das in der Kehle brannte; das Verlangen, das in den Augen brannte. Diesmal könnte es niemand verhindern, denn sie brauchten nur die Hand auszustrecken, die Rettung war zum Greifen nahe. Niemand könnte es verhindern. Niemand.
Außer Victoriano Álvarez. Wie ein Aasgeier, der im Tiefflug mit den Flügeln schlägt, traf Alicia der Gedanke an den Schwarzen und sein Versprechen, sie alle umzubringen, ehe sie gerettet würden, damit sie nicht gegen ihn aussagten.
Sie lief den Felsen abwärts, ohne darauf zu achten, wo sie die Füße hinsetzte, ohne einmal anzuhalten, wickelte sich im Gehen das Laken wieder um, stand sofort wieder auf, wenn sie fiel, und spürte die Verletzungen der spitzen Steine an den Knöcheln, an den Waden, an den Knien nicht. Sie erreichte die Stelle, wo ihre drei Kinder warteten, nahm Ángel vom Rücken und legte ihn an einen geschützten Platz, dann schärfte sie ihrem Sohn Ramón ein: »Du bleibst hier und passt auf den Kleinen und deine Schwestern auf. Vielleicht werden wir gerettet, aber wir müssen vorsichtig sein. Schwör mir, Ramoncito, dass ihr euch nicht von der Stelle rührt, bis ich wieder da bin.«
Sie lief weiter den Hang hinunter, ohne die Antwort des Kindes abzuwarten. Jedes Mal steige ich diesen Weg mit lauter Gründen nach oben, nicht mehr leben zu wollen, und gehe ihn dann mit lauter Gründen wieder nach unten, weiterleben zu wollen, kam ihr in den Sinn, als sie sich halb laufend, halb rutschend abwärtsbewegte. Sie entdeckte Tirsa, die am Strand ein Feuer entzünden wollte, bestimmt, um dem Schiff Zeichen zu machen, und rief mit erstickter Stimme nach ihr, weil sie nicht zu schreien wagte. Victorianos Leuchtturmwärterhaus lag auf der anderen Seite des Felsens, wahrscheinlich schlief er noch tief und fest, aber sie fürchtete, der Wind könnte ihm die Stimmen zutragen und ihn aufwecken.
»Tirsa«, sagte sie, bei ihr angelangt, »wir müssen Victoriano umbringen, bevor er uns umbringt.«
»Das wird er sich nicht trauen, dafür ist das Schiff schon zu nahe.«
»Doch er wird es, weil er verrückt ist. Er wird uns erschießen, genauso wie er es angedroht hat, und sich dann verstecken oder mitnehmen lassen. Komm, wir dürfen keine Zeit verlieren.«
»Und womit sollen wir ihn umbringen?«
»Ich habe Ramóns Säbel neben dem Haus vergraben … «
»Der wird uns nichts nützen. Wir brauchen etwas, was wir verstecken können, damit er keinen Verdacht schöpft. Besser wir schlagen ihm mit einem Stein den Schädel ein.«
Sie wählten einen mittelgroßen, kantigen Stein mit einer Spitze. Dann näherten sie sich der Wärterhöhle des Leuchtturms und riefen Victoriano. Tirsa versteckte den Stein hinter dem Rücken, Alicia versteckte sich hinter Tirsa und hörte nur noch das arhythmische Pochen ihres Blutes, alles war unwirklich, wie der Albtraum einer anderen Person. Als keine Antwort kam, riefen sie ihn noch einmal. Da erschien Altagracia und sagte, dass der Mann nicht da sei. Sie hatte weder das Schiff gesehen noch jemanden schreien hören, auch wusste sie von nichts.
»Glaubst du, Victoriano weiß es schon?«, fragte Alicia.
»Nein, er weiß es auch nicht, bestimmt nicht. Vor einer Weile hat er seine Harpunen genommen und ist nach Norden gegangen, um zu fischen.«
»Wir wollen ihn umbringen, Alta, kannst du uns helfen?«
»Aber wie?«
»Egal wie.«
»Schauen Sie, Ihre Beine, Señora Alicia, die bluten. Die sollten Sie lieber erst waschen und sich beruhigen. Wenn Sie so nervös sind, wird er hinter ihre bösen Absichten kommen.«
»Stimmt«, sagte Tirsa, »wir müssen ihn irgendwie umgarnen, um ihn zu töten. Lasst uns einen Plan schmieden.«
»Wir haben keine Zeit zum Pläneschmieden. Wir müssen hingehen, ihn erschlagen und fertig«, Alicia wollte sich nicht aufhalten lassen und stürmte weiter. »Wenn ihr nicht mitkommt, dann gehe ich eben alleine.«
Tirsa packte sie am Arm.
»Überleg dir, ob du wirklich im allerletzten Moment Selbstmord begehen willst! Du musst dich beruhigen, Alicia, und einen kühlen Kopf behalten. Du bezirzt ihn, ich bringe ihn um.«
»Ich soll ihn bezirzen? In fünf Minuten? Wie stellst du dir das denn vor?«
»Du sagst ihm, dass du ihn heiraten willst, oder wie gut er aussieht, oder er soll dir einen Kuss geben. Sag ihm irgendwas, was dir gerade einfällt: Du lenkst ihn ab, damit ich ihn erschlagen kann.«
»Er ist unbewaffnet losgegangen. Die Messer und die anderen Waffen hat er vorher weggeschlossen, aber den hier hat
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