Die Insel der Verlorenen - Roman
gedunkelt ist. Doktor Ross hat sie untersucht und mir berichtet, dass ihr Zustand recht gut sei und sie an keiner Krankheit leiden. Er hat mir außerdem erzählt, er habe sich mit den Frauen unterhalten und dabei erfahren, dass sie, als unser Boot nach dem ersten fehlgeschlagenen Versuch, die Insel zu erreichen, abgedreht und zum Schiff zurückgefahren ist, von einer Verzweiflung überwältigt wurden, dass sie daran dachten, die Kinder zu töten und dann Selbstmord zu begehen, indem sie sich im Meer ertränkten. Eine von ihnen scheint die Tatkräftigste zu sein und hat eine zupackende Art, Tirsa Rendón, die Witwe des Leutnants der Garnison. Kaum war sie auf dem Schiff, bat sie leihweise um eine Nähmaschine der Intendantur und fing ohne Zeit zu verlieren, an, für die Kinder Kleidung aus Drillich zu schneidern.
Diese sind sehr scheu, aber neugierig. Alles ist ihnen fremd und neu, sie wollen es sehen und anfassen. Sie haben geweint, als die Bluejackets sie ins Schiff gehoben haben, weil sie dachten, sie würden von ihren Müttern getrennt, die noch im Boot waren. Die Männer haben großes Interesse an diesen Kindern gezeigt und ihnen mehrere Schachteln mit Süßigkeiten geschenkt, obwohl die Kleinen gar nicht wissen, was das ist. Ich habe eine Weile ein kleines Indio-Mädchen beobachtet, wie es versuchte, eine Schachtel Marshmallows zu öffnen. Als sie es geschafft hatte, ist sie an die Reling gegangen und hat die Süßigkeiten eine nach der anderen ins Meer geworfen, dann hat sie die Schachtel wieder zugemacht und sie, hochzufrieden mit dem neuen Spielzeug, auf den Boden gelegt, damit sie mit dem Schwanken des Schiffs vor- und zurückrutschte. Während des Essens wollten die Jüngsten keinen Bissen von dem kosten, was man ihnen vorsetzte, weil sie, wie ich hörte, ihren »Tölpel« verlangten. Damit meinten sie eine Möwenart, von der sie sich auf der Insel hauptsächlich ernährt hatten. Die Frauen dagegen beteuerten, sie hofften, dass sie in ihrem Leben nie wieder Möwen würden essen müssen.
Sie haben zwei Schweine mit an Bord gebracht, die magersten Schweine, die ich je gesehen habe. Die Männer sagen, dass sie aussehen wie das Schweinepaar von der Arche Noah nach der Sintflut, und obwohl die Frauen sie uns zum Kochen angeboten haben, kann sich keiner entschließen, sie zu schlachten. Es wäre zu grausam, ihnen das frisch gerettete Leben zu nehmen, nachdem sie einen so harten Überlebenskampf überstanden haben.«
Um vier Uhr morgens schloss Kapitän Perril sein Notizbuch und schlief ein. Zwei Stunden später wurde er vom Funker geweckt, der ihm mitteilte, er habe die Antwort des englischen Konsuls erhalten. Dieser kündigte an, dass er selbst kommen und die Überlebenden in Empfang nehmen wolle, außerdem habe er bereits einigen der Angehörigen Bescheid gegeben, die über die Jahre mit ihm in Kontakt geblieben seien, um sich für ihre Rettung einzusetzen.
Am Sonntag, den 21. Juli, nachmittags um zwanzig nach fünf, ging das Kanonenboot Yorktown im mexikanischen Hafen von Salina Cruz vor Anker. Drei Männer standen am Kai und warteten: der britische Konsul, Alicias Vater Don Félix Rovira und der Deutsche Gustavo Schultz. Kapitän Perril gab Order, Herrn Rovira in seine Kajüte zu führen, wo seine Tochter auf ihn wartete. An jenem Abend notierte er in sein Tagebuch, die beiden hätten sich mit einer so innigen Freude in den Armen gelegen, dass ihm zum ersten Mal seit Jahren die Tränen über die Wangen geflossen seien. Dass sie sich wortlos nebeneinandergesetzt und sich nur tief gerührt in die Augen gesehen und an den Händen gehalten hätten. Perril schrieb auch auf, dass er sie in seiner Kajüte allein ließ, und sie, als er eine halbe Stunde später zurückkam, noch immer in der gleichen Stellung dasaßen, wie er sie verlassen hatte, und noch immer kein Wort miteinander gewechselt hatten.
Epilog
Die Clipperton-Insel gehört seit 1931 nicht mehr zum mexikanischen Hoheitsgebiet, nachdem der italienische König Victor Emanuel III in seinem Schiedsspruch zur Beilegung der BesitzstreitigkeitenFrankreichbegünstigthatte.AußerdenLandkrabben, den Tölpeln und einer ausgebleichten französischen Flagge, die wie ein trocknendes Laken in der Sonne weht, sind heute nur noch die dreizehn von Gustavo Schultz angepflanzten Palmen auf der Insel zu finden.
Danksagungen
In Orizaba:
Alicia Arnaud, Witwe von Loyo
In Colima:
Carlos Ceballos
Genaro Hernández
In Mexiko-Stadt:
Oberst N.N.
Rodrigo Moya
Carlos
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