Die Insel der Verlorenen - Roman
Seit Jahrzehnten liegt sie vergessen zwischen den Felsbrocken. Eine Puppe mit verwaschenen Wimpern und Wangen, die Porzellanhaut angefressen. Sie glotzt mit leeren Augenhöhlen und speichert alles im vom Salz porösen Schädel.
Jetzt, da alles vorüber ist, liegt die Puppe als tote Zeugin da, fiebrig umwogt von Tausenden und Abertausenden Landkrabben, die den Sand bedecken, sich nervös in mehreren Lagen übereinanderstapeln, unablässig um sie sind, den kahlen Kopf belauern, den aufgebrochenen Leib belagern, in den aufgesprungenen Schritt eindringen.
Das Krabbenvolk umwimmelt unschlüssig diese kleine menschliche Präsenz. Denn sie, die Puppe, ist neben weiteren unkenntlichen Abfällen der einzige Hinweis auf ein Überdauern von Menschen auf der Insel Clipperton.
Am selben Strand, wo heute die Puppe mit ihrem hysterischen Hofstaat aus Krabben herrscht, jagten vor Zeiten Kinder hinter Tölpeln her, schürzten Frauen ihre Röcke, um mit den Füßen ins lauwarme Wasser zu gehen, und schifften Matrosen Körbe voller Orangen und Zitronen aus.
Aber das alles geschah vor der Tragödie.
Danach wollte und konnte niemand mehr nach Clipperton zurück, bis auf den einen oder anderen Guano-Händler und das halbe Dutzend französischer Seeleute, die allmonatlich anlegen, um in schläfriger Gleichgültigkeit und umnebelt von den Dünsten, die aus dem Boden aufsteigen, an der routinemäßigen Zeremonie des Hissens ihrer Landesflagge teilzunehmen. Denn Clipperton, das in seinen besten Zeiten mexikanisches Hoheitsgebiet war, befindet sich heute im Besitz der Franzosen, auch das gewissermaßen infolge der erwähnten Ereignisse.
Einschließlich der Franzosen, deren Namen unbekannt sind, bleibt die Anzahl der Menschen, die Clipperton im Laufe der Geschichte betreten haben, überschaubar, sogar so überschaubar, dass sie nach einem eingehenden Quellenstudium, mit einer geringen Fehlertoleranz, allesamt aufgelistet werden könnten. Die meisten haben lediglich ein paar Stunden, wenn es hochkommt, mehrere Tage dort verbracht, und nur wenige hielten es Jahre aus.
Wer dort gewesen ist, beschreibt die Insel Clipperton als einen unangenehmen, abweisenden Ort. Er versichert, dass es an ihren Stränden von Schiffsbruchresten nur so wimmelt, und ihre Luft verpestet ist vom Schwefelgestank einer vulkanischen Lagune, deren Wasser vergiftet sind, ungenießbar, dass sie kein tierisches Leben hervorbringen und einem obendrein die Haut verätzen, wenn man damit in Berührung kommt. Die Lagune bildet, wo der Vulkankegel ins Meer gesunken ist, ein breites, tiefes Becken in der Mitte des Atolls und nimmt dessen Gesamtumfang von fünf Kilometern fast vollständig ein. Als Boden, auf den der Mensch einen Fuß setzen kann, lässt sie einzig einen schmalen Erdring stehen, mit rauen, von Korallenbruch übersäten Stränden und dreizehn Palmen, die der Wind lieber heute als morgen ausreißen würde. Clipperton ist eigentlich nicht viel mehr als Wasser, umgeben von Wasser.
Ein Grund für Clippertons Einsamkeit ist ihre Abgeschiedenheit, zwei weitere ihre unbedeutende Größe und ihre Kargheit. Bekanntermaßen ist die Insel klein genug, um an einem einzigen Vormittag zügigen Schrittes umrundet zu werden; bricht man um sieben Uhr früh auf, so ist man vor zwölf Uhr mittags wieder am Ausgangspunkt zurück.
Bekanntermaßen liegt sie auf der Nordhalbkugel im Pazifischen Ozean, genauer gesagt auf dem 10. Breitengrad, 13 Minuten, und auf dem 105. östlichen Längengrad, 26 Minuten, und der mexikanische Hafen Acapulco ist, mit einer Entfernung von 511 Seemeilen oder 945 Kilometern, der nächstgelegene Ort auf dem Festland. Stellt man sich eine Weltkarte vor, so entdeckt man, dass die Insel auf dem Kreuzungspunkt zweier Achsen liegt, einer, die von Acapulco nach Süden verläuft, und einer, die von San José in Costa Rica nach Westen verläuft, und dass sie sich im gleichen Abstand vom Äquator befindet wie Cartagena und Maracaibo. Dies alles ist von dem Atoll bekannt und dennoch wurde es auf einigen Seekarten mit der Abkürzung »D.E.«, doubtful existence , ins Ungewisse verbannt.
Nicht einmal der Name ist sein wahrer Name. »Clipperton«, das ist ein Alias, ein Ablenkungsmanöver. Eine der vielen Arten dieser Insel, sich aufzuspalten und zu verschleiern. Der wahre Name, auf den sie ursprünglich getauft wurde, als Ferdinand Magellan sie zwischen 1519 und 1521 von fern erspähte, war der süße und zugleich schreckliche Name Isla de la Pasión , Insel der
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