Die Insel der Verlorenen - Roman
sich gegeben. Als sie starb, war ihr Kopf nämlich ziemlich durcheinander wegen der Schläge, die ihr der Schwarze in Clipperton verabreicht hat. Er hat ihr einen dauerhaften Schaden zugefügt. Sie behielt nämlich einen Tumor, der inoperabel war und sie mit der Zeit irre gemacht hat. Zum Schluss fantasierte sie, aber nur zum Schluss, als sie schon alt war. Vorher nicht. Vorher hatte sie nur von Zeit zu Zeit Gedächtnislücken. Dann war sie immer völlig verzweifelt, weil alles ausgelöscht war, aber irgendwann fing sie sich wieder und kehrte zu ihrer gewohnten Routine zurück.
»Altagracia muss damals auf der Insel mächtig gelitten haben«, sagte ihre Cousine, ihre Ziehtochter, ihre Freundin Señora Guillermina, »weil der Mann sie richtig übel gequält hat. Er war, was man einen Sadisten nennt. Mit ihrem Mann, dem Deutschen, hat sie deshalb keine Kinder haben können, auch das wegen des Schadens, den der Schwarze angerichtet hat, weil er die Frauen vergewaltigte und pervers war. Auf den Kopf geschlagen hat er sie auch alle. Er zog sie an den Haaren, an den Zöpfen, und zerrte sie über den Boden. Alta hatte das längste und schönste Haar, das ich je gesehen habe. Aber Sie irren sich, wenn Sie sagen, dass sich die Frauen auf Clipperton die Haare abgeschnitten hätten, weil sie ihnen beim Arbeiten hinderlich waren. Die langen Haare haben sie nicht gestört, weil sie sich Schnüre hineingeflochten haben und die Zöpfe dann auf dem Kopf feststeckten. Das war nicht der Grund. Sie haben sich nur die Haare abgeschnitten, damit der Schwarze sie nicht mehr daran herumzerren konnte, damit sie nicht vor lauter Haareziehen am Ende blöd wurden.«
»Dann haben sie sich also die Haare abgeschnitten, um ihren Kopf zu retten.«
»So könnte man sagen. Alta hat mir erzählt, dass dieser Victoriano Álvarez so bösartig gewesen ist, dass das Unheil, weswegen sich kein Schiff mehr der Insel näherte, allein seine Schuld war. Sie wussten alle, dass er verantwortlich für ihre Isolation war und der Fluch nicht gebrochen werden konnte und auf Clipperton fortbestand, solange er am Leben war. Aus diesem Grund, und weil er sie schlug und missbrauchte, wollten sie ihn töten. Altagracia hat mir gesagt, einmal hätten sie ihm eine vergiftete Marmelade gekocht und sie ihm gegeben, um ihn umzubringen. Er bemerkte aber den Betrug und hätte sie an jenem Tag um ein Haar alle umgebracht. In seiner Wut wurde er zum Tier, schlimmer als er ohnehin schon war. Er zog eine nach der anderen an den Haaren und schlug sie zusammen, bis sie am Boden lagen. Nach diesem Zwischenfall haben sie beschlossen, sich die Zöpfe abzuschneiden.«
»Sie wollten ihn mit Marmelade vergiften?«, frage ich. »War es nicht eine Suppe?«
»Mit Marmelade.«
»Und wo hatten sie die Früchte und den Zucker her?«
»Keine Ahnung. Ich weiß nur, dass Alta erzählt hat, es wäre Marmelade gewesen. Das ganze Pech meiner Cousine fing damit an, dass sie die Señora Alicia Arnaud im Hotel in Mexiko-Stadt kennen gelernt hat. Die Frau hatte schon drei Kinder und suchte ein Kindermädchen, das sie mit auf die Insel nehmen konnte. Ihr entging nicht, dass Alta, die dort arbeitete, gut erzogen war und nur deswegen als Zimmermädchen arbeiten musste, weil ihre Familie während der Revolution in Schwierigkeiten geraten war. Unsere Familie. Altas Vater war Lehrer und hat ihr das Schreiben beigebracht, mit Rechtschreibung und Schönschrift. Damals wohnten sie in Yautepec, Morelos, im Gebiet des Guerillakämpfers Emiliano Zapata, wo die Bauern sich nichts gefallen ließen. Die Quiroz waren schon auf der Flucht vor dem Chaos, als sie in eine Schießerei gerieten, die sie beinahe das Leben kostete. Alta wurde gerettet, weil ein Soldat, der an ihr vorbeigaloppierte, sie aufs Pferd hob und da herausholte. Sie hat nie erfahren, auf wessen Seite der Mann, der sie gerettet hat, kämpfte. Nachdem sie ihr Zuhause verließ, löste sich die Familie auf, jeder ging, wohin es ihn verschlug, und Alta musste sich in der Hauptstadt über Wasser halten. Sie nahm das Angebot der Arnauds an und als die Familie nach Clipperton zurückkehrte, fuhr sie natürlich mit. Ich nehme an, dass sie es tat, weil es die beste Chance war, die sie in dem Moment hatte. Damals war sie 14 Jahre alt und verdiente im Monat fünf Pesos. Die Arnauds haben ihr zehn geboten und versprochen, dass sie nur vier Monate auf der Insel bleiben würde und mit dem nächsten Schiff zurückkönnte. Das mit dem doppelten Lohn haben sie
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