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Die Insel der Witwen

Die Insel der Witwen

Titel: Die Insel der Witwen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dagmar Fohl
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mündete. Auf mehrmaliges Rufen antwortete er nicht. Er wurde tobsüchtig. Die Wärter holten die Zwangsjacke. Einzelzelle und Hofgangverbot. Als er später zur Ruhe kam, behauptete er auf Befragen, sich an nichts zu erinnern.
     
    April: Er wurde von Neuem genau untersucht, aber keinerlei Veränderungen wahrgenommen.
     
    Mai: stieß Flüche und Verwünschungen aus. Schrie, dass seine Familie ohne ihn betteln gehen müsse.
     
    Juni: ruhig. Sprach mit seiner Frau und sagte ihr, sie solle unbesorgt sein und hoffen. »Sorge für das Wohl unserer Kinder und achte darauf, dass ihnen kein Schaden zustößt«, sagte er zu ihr und prophezeite ihr eine glückliche Zukunft.
     
    H
     
    Keike und Stine verabschiedeten sich von Medje. Lange lagen sie sich in dem Armen. Keike steckte Medje Geld zu, damit sie durchkam ohne sie. Medje steckte es in ihre Schürze, wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. »Schreibt mir von drüben. Gott beschütze Euch.«
     
    Sie machten sich auf zum Hafen. Mit Kindern, Kisten und Beuteln warteten sie auf die Fähre. Keike und Stine trugen ihre schwarzen Kleider. Stine weinte. Sie dachte an Tükke. Keike weinte und vermisste Andreas. Verlorene Lieben, verlorene Leben. Aber es waren ihre letzten Tränen. Unter der Witwentracht trugen sie ein buntes Kleid, das den schwarzen Kokon aufplatzen ließ. Als Schmetterlinge flogen sie in eine neue Welt. Ihre Zukunft auf der Insel war Vergangenheit. Die Vergangenheit verschluckte der Ozean. Keike und Stine spreizten ihre bunten Flügel.
    Keike saugte noch einmal die Luft, die Düfte ein. Tausend Erinnerungen überschwemmten sie. Heimat war Duft, waren Aromen. Das Salz, der Tang, getrocknete Fische an der Leine, die Heide, Schafe. Dünen. Und das Watt. Nichts duftete so wie das Watt. Sie lauschte dem Wind. Er rauschte durch ihr Herz. Die Wellen stießen an ihre Rippen. Das Kind in ihr regte sich im Einklang mit den Wogen.
    Die Mädchen lachten.
     
    Sie saßen in Hamburg am Jonashafen. Hockten auf ihren Bündeln und Kisten in der Masse der Auswanderer. Langsam kam Bewegung in die Gruppe. Die ersten Passagiere wurden mit kleinen Booten zum Schiff gebracht. Sie stellten sich in die Schlange der Wartenden. Das vierte Boot, das anlegte, setzte sie zum Dampfer über.
    Die Schiffssirene erschallte, die Motoren dröhnten. Dunkle Rauchwolken stiegen aus dem Schornstein auf. Das Schiff vibrierte, setzte sich langsam in Bewegung. Eine Blaskapelle spielte. Die Menschen schwenkten Hüte und Tücher. Keike stand an Deck, warf einen letzten Blick auf die Hafenkulisse. Ihre Augen flimmerten. Sie sah Andreas, schemenhaft. Er stand an der Mole, inmitten der Menge. Er winkte. Haltlos und ungestüm. Seine Hand flatterte wie eine Fahne im Wind. Flirrte. Winkte und winkte.
    Das Schiff entfernte sich immer weiter vom Kai, glitt Welle für Welle der Zukunft entgegen. Andreas war nur noch als winziger schwarzer Punkt auszumachen. Dann verlor er sich in den Trübungen der Vergangenheit.
     

4
    Die Bäume hatten ihre Blätter verloren. Nackt und frierend ragten die Äste in den grauen Himmel empor. Zu Füßen der Stämme lagen die dunkelbraunen, abgestorbenen Blätter auf dem schlammigen Boden. Nichts erinnerte mehr an ihre Schwerelosigkeit, mit der sie das Jahr über im Wind flatterten. Als nasse Lappen klebten sie im Straßenschmutz, bevor sie sich ganz auflösten.
    Andreas Hartmann saß in seinem Arbeitszimmer. Er blickte auf die kahlen Baumkronen. Im höchsten Baum rastete eine Schar Krähen. Sie krächzten unentwegt. Von Zeit zu Zeit flogen sie auf, um sich kurz danach mit ihrem eintönigen KraKra wieder niederzulassen.
    Seit drei Wochen waren Almut und Hannes wieder daheim. Sie hatten die Krankheit überstanden. Und er war von der Insel zurückgekehrt. Das Leben nahm seinen gewohnten Lauf. Geregelte Mahlzeiten, Gäste, Einladungen, Kirchenbesuche, Betstunden. Andreas Hartmann zuckte zusammen. Ein tiefes Sehnen zog sich als dumpfer Schmerz durch sein Herz.
    Almut trat ein. Sie brachte ihm Tee. In seinem Hirn begann es quälend zu pochen. Ein schwerer Eisenring legte sich um seinen Kopf. Immer enger zog er sich zu. Und die Krähen schrien Was du tun willst, tue jetzt! Die schwarzen Vögel wurden immer aufdringlicher, sie flogen zum Fenster herein, glitten über seinen Kopf hinweg. Ihr schrilles Krächzen bohrte sich in seine Ohren. Tu es! Tu es!
    »Du siehst schlecht aus«, klagte Almut. »Geh doch zu Dr. Albers und lass dich untersuchen. Du wirkst immer noch sehr erschöpft.

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