Die Insel der Witwen
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12. Dezember 1868. Es war einer jener nasskalten, trüben Wintertage, wie sie in Hamburg häufig vorkamen. Der Wind trieb große, feuchtschwere Schneeflocken vor sich her, die bald, nachdem sie zu Boden fielen, schmolzen und die Straßen und Wege mit einer bräunlich matschigen Masse überzogen. Die Menschen huschten durch die Stadt, verborgen unter einem Dach von schwarzen Regenschirmen, die Hüte und Mützen tief in die Stirn gezogen, den Mantelkragen hochgeschlagen, Schals über den Mund gewickelt, ihre Galoschen über die Schuhe gestülpt. Die Mienen der Bürger waren, sofern man noch etwas von ihnen erspähen konnte, düster und mürrisch. Niemand liebte dieses Wetter. Allen schlug es aufs Gemüt. Obwohl es erst elf Uhr morgens war, hatte man das Gefühl, dass die Abenddämmerung bereits einsetzte.
Im Gerichtssaal des Niedergerichtes entzündeten die Diener die Lampen. Der Angeklagte Andreas Hartmann bemerkte es nicht. Er saß mit gekrümmtem Rücken auf seinem Stuhl. Sein Gesicht war blass, die Wangen eingefallen. Zwischen den Augen und von den Nasenflügeln bis über die Mundwinkel zogen sich tiefe Furchen. Sein Haar, das in jener Nacht ergraut war, ließ ihn noch bleicher erscheinen. Mit trüben und wässrigen Augen blickte der Angeklagte ins Leere. Wie betäubt saß der Ingenieur auf der Anklagebank, die Hände leblos wie zwei hohle Muschelschalen auf den Oberschenkeln abgelegt, abwesend lächelnd, als ginge ihn die Verhandlung nichts mehr an, als hätte er sich in eine andere Welt geflüchtet, die ihn vor der Realität, vor sich selbst schützte.
Die sonore Stimme des Richters schallte durch den Saal. »Ich bitte nun die Verteidigung zu den Anschuldigungen der Staatsanwaltschaft Stellung zu beziehen.«
Die Robe des Verteidigers raschelte, als er sich erhob. »Hohes Gericht. Wir fragen uns: Wie kommt dieser ehrbare, gebildete Mann zu dieser schrecklichen Tat? Sein Charakter war im bürgerlichen Sinne gut, er ließ sich keine Vergehen zuschulden kommen. Ich muss darauf verweisen, dass der Angeklagte sich in einem Zustand geistiger Umnachtung befunden haben muss, als er das Verbrechen beging. Es kann sich bei ihm nur um das Krankheitsbild des Verborgenen Wahnsinns handeln, der aufgrund äußerer Belastungen, die sich akkumulierten, zum Ausbruch gekommen ist. Verborgener Wahnsinn ist ein Drang, das belastete Gemüt durch eine gewaltsame Handlung zu befreien. Unvernunft und Gewalt schwelten bei dem Ingenieur schon jahrelang unter dem Deckmantel der Normalität. Das schreckliche Kindheitserlebnis des Angeklagten, das ihn bekanntlich sein ganzes Leben lang plagte und sich in Angstzuständen und immer wiederkehrenden Albträumen manifestierte, brachte ihm zeitlebens eine ungute psychische Disposition ein. Ich denke, dass der Halt, den er durch Frau und Kinder erfuhr, und seine Arbeit als erfolgreicher Ingenieur den Ausbruch seines Wahns über lange Jahre verhindert haben. Es kann nur eine Erklärung geben: Sein letzter Auftrag hat ihn überfordert und seiner Kräfte beraubt, den in ihm schlummernden Wahnsinn niederzudrücken. Dann kam die Krankheit von Frau und Kind dazu. Hohes Gericht, Euer Ehren, es ist meiner Meinung nach unumstritten, auch und besonders unter Einbeziehung der Gutachten der Gerichtsmediziner, dass der Ingenieur Andreas Hartmann den Umständen nach von allen Strafen zu verschonen ist. Man sollte ihn als ein für die Gesellschaft zu gefährliches Glied lebenslänglich in festen Gewahrsam nehmen. Das augenscheinlich wirre und gemäß der gerichtlichen Untersuchung fehlende Motiv für die Tat nährt diese Sicht der Dinge.«
»Einspruch«, rief der Staatsanwalt.
»Einspruch stattgegeben.«
Der Staatsanwalt verschränkte die Arme hinter dem Rücken. Auf-und abgehend ergriff er das Wort. »Der Angeklagte hat beim Verhör geäußert, er habe die Tat, ich zitiere, wie im Taumel begangen. Auch das ist im medizinischen Gutachten vermerkt. Er zeigte nicht die geringsten Zeichen einer Geisteszerrüttung, sodass wir ihn jetzt seines Verstandes für vollkommen mächtig halten müssen. Er schien sehr vernünftig, bei voller Besinnung und wohl überlegt.
Ich präzisiere: Der Geistes-und Gemütszustand während der Tat kann zuletzt nur durch die Aussagen des Angeklagten beurteilt werden. Die Gewalttat, die von einem sonst vernünftig erscheinenden Menschen verübt worden ist, ist kein hinreichendes Zeichen eines krankhaften Zustandes.«
»Einspruch.«
»Einspruch
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