Die Insel der Witwen
Langsam verschwand es im Dunst. Keike hörte einen Todesschrei. Sie sah einen Mann im Moor. Er wollte einen Graben ziehen. Er grub tief in die Moorschicht hinein. Dort fand er eine Ente, die auf ihren Eiern saß. Als er sie berührte, zerfielen Ente und Eier. Vom Himmel regnete es Asche.
Andreas Hartmann hatte sich von Lorenzen verabschiedet, steuerte auf die Fähre zu, als er Keike erblickte. Sie erhob die Hand zum Gruß. Hass stieg in ihm auf. Sie war eine Seeschlange, die sich um seinen Leib gewunden und ihn erwürgt hatte. Er fühlte sich erniedrigt. Er verabscheute sie. Er riss den Blick von ihr los. Ein Matrose trug ihn huckepack zum Schiff. Er fühlte Angst. Angst vor der Fährfahrt, Angst vor der Zukunft.
Das Schiff legte ab. Keikes Hand senkte sich, das Boot entfernte sich vom Ufer. Wellen schlugen an den Bug. Furchterfüllt saß Andreas Hartmann auf der Holzbank, verlassen auf dem taumelnden Schiff zwischen Insel und Festland. Übelkeit überfiel ihn. So würde es bleiben, dachte er. Er hatte den Boden unter den Füßen verloren, schwankte trunken hin und her. Sein Magen rebellierte. Er unterdrückte den in ihm aufsteigenden Brei, presste den Daumen an den Unterkiefer, blickte starr zum Horizont. Die Wolken hingen in Fetzen, die Wogen stiegen. Ihre Kämme schäumten. Es war nicht nötig, glücklich zu sein, sagte er sich, es war nur wichtig, seine Bestimmung, seine Pflicht zu erfüllen. Er liebte sie nicht mehr. Sie war dumm und abergläubisch. Seine Glut war erloschen, er würde sich von ganzem Herzen seiner Familie annehmen, Hannes und Almut pflegen, bis sie wieder gesund waren. Herr im Himmel, mach sie wieder gesund!
Er drehte sich zur Insel um. Keike war nur noch als kleiner, schwarzer Punkt auszumachen.
Der Kloß in seinem Hals schwoll an. Er beugte sich über die Reling. Sein Innerstes schoss mit einer durch nichts aufzuhaltenden Macht ins Meer. ›Du kannst deine Gefühle nicht bestimmen‹, rief die Meerfrau, die aus den Tiefen auftauchte und gleich darauf wieder verschwand. Er spie und spie. Und während das Erbrochene die Meeresoberfläche verunreinigte, konnte er nichts anderes denken, als Keikes zum Abschied erhobene Hand zu ergreifen, sie für immer zu halten, zu küssen und zu wärmen.
H
Die Leidenschaften der Seele, die geistigen Anstrengungen, die angestrengten Studien, tiefen Meditationen, die Wut, die Traurigkeit, die Furcht, der lange und brennende Ärger, die verschmähte Liebe, können zu fernen Ursachen für den Wahnsinn werden.
Überhaupt kann jede Veränderung der äußeren Welt den Wahnsinn hervorrufen. Zum Beispiel die Luft, wenn sie zu heiß, zu kalt oder zu feucht ist, das Klima unter besonderen Bedingungen, das Leben in der Gemeinschaft, die Liebe zu den Wissenschaften, die Lektüre von Romanen, alles also, was die Vorstellungskraft belebt. Alles, was die Geister in eine bestimmte Richtung bringt, sie erschöpft und verwirrt; große und plötzliche Schrecken, heftige, durch Freude oder lebhafte Erregung verursachte Leiden der Seele, lange und tiefe Grübeleien über denselben Gegenstand, eine heißblütige Liebe, Wachsein und jede übertriebene Anstrengung des besonders nachts beschäftigten Geistes; die Einsamkeit, die Furcht, Hysterie, alles, was die Bildung, Erneuerung, Zirkulation und die verschiedenen Ausscheidungen des Blutes verhindert, ruft gewöhnlich das erotische Delirium, Erotomanie genannt, hervor.
3
Andreas Hartmann fuhr durch das spätherbstliche Hamburg. Wehmut ergriff ihn. Die bunten Blätterroben kündigten den Tod an. Ein letztes Aufflammen vor dem Vermodern. Ein letztes Aufflackern vor dem Absterben. Seine Gedanken verdüsterten wie der Himmel vor einem Gewitter. Die letzte Nachricht von Friedrich war immer noch besorgniserregend gewesen.
Die Kutsche hielt vor dem Haus der Hartmanns. Friedrich und Jule empfingen ihn. Er umarmte beide. Friedrich strahlte.
»Es war nicht die Cholera. Es war eine schlimme Darmkrankheit. Die Ärzte konnten sie nicht benennen.« Friedrich lachte. »Jetzt ist alles überstanden. Almut und Hannes werden übermorgen aus dem Spital entlassen. Du kannst sie besuchen.«
Andreas Hartmann drückte die Hand seiner Tochter. Jule sah zu ihm auf. »Ich habe inzwischen Ihre Noten geübt. Soll ich sie Ihnen vorspielen?«
»Später, Jule, später.«
Sie fuhren sogleich zum Spital. Andreas Hartmann dankte Gott. Der Herr hatte ihn erhört. Er war gerettet. Entbürdet von der Last seiner Fantasien, von seinen abscheulichen
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