Die Inselvogtin
beeilte, war der Weg gen Westen bald abgeschnitten.
Angestrengt lauschte er in den Orkan hinein. Ob am Köper Sand noch immer Kanonenschüsse abgefeuert wurden? Doch Tasso hörte nur das Brausen des Meeres und die tausendfach variierenden Töne, die ein Sturm hervorbringen konnte.
Er lief bereits durch tieferes Wasser, als plötzlich etwas Hartes an sein Schienbein stieß.
Es war ein Stück gebrochenes Holz, eine zersplitterte Schiffsplanke. Nur eine Handbreit weiter schwamm ein ähnliches Stück Treibgut im breiten Priel. Tasso hob das Brett aus dem Wasser, die Fasern waren noch fest. Undeutlich erkannte er die Maserung, ebenso die Stellen, an der einst ein Schiffsbauer mit dem Hobel entlanggefahren war. Kein Zweifel, dieses Stück Holz hatte noch nicht lange im Wasser gelegen. Es war nicht unförmig aufgequollen, keine Seepocken hatten sich daran festgemacht. Nicht weit von hier musste ein Schiff gesunken sein.
Das Kriegsschiff? Ob es Überlebende gab?
Tasso watete weiter durch den Priel, ohne auf die Splitter zu achten, die vorbeitreibendes Holz in seine Haut rammte.
Und wenn die Seeleute nun nicht gerettet worden waren?
Die Leichen brachte das Meer immer erst ein paar Tage später, das wusste Tasso bereits. Menschenkörper verhielten sich anders als Holz, sie sanken erst auf den Grund, wurden dort von den Unterströmungen ergriffen und in unterschiedliche Richtungen auf Reisen geschickt. Erst später blähten sich die Bäuche, dann trieben die Ertrunkenen oben und folgten wieder den Wellen Richtung Strand.
In der Nähe meinte Tasso nun kleine, flackernde Punkte zu erkennen. Die Fackeln der Kirchgänger! Es mussten die Loogster sein, die sich nach der Messe gemeinsam auf den Weg über den Hammrich machten. War es vielleicht möglich, dass sie von den Kanonenschüssen gar nichts gehört hatten?
Tasso rannte los. Trotz der vorbeischwimmenden Trümmer ringsherum gab es ja noch eine winzige Hoffnung, dass einige Seeleute das Unglück überlebt hatten. Er wollte helfen. Er wollte beweisen, dass er eben doch falsch entschieden hatte, als er der Mutter gefolgt war, statt Alarm zu schlagen.
»Braucht ihr noch einen starken Mann?«, schrie er gegen den Sturm an und versuchte, auf sich aufmerksam zu machen.
2 6
»Wer ist da? Bist du es, Hexenbastard?«, antwortete eine dröhnende Männerstimme. Es war Bauer Switterts. Er trug eine Fackel und führte die Truppe an. Seine massige Gestalt war nun gut zu erkennen.
»Das Schiff! Am Köper Sand! Habt ihr die Kanonenschüsse nicht gehört?« Tasso bekam kaum noch Luft, so schnell war er den Insulanern entgegengerannt.
»Da kommen wir wohl schon zu spät «, erwiderte der Fackelträger nur.»Die hat’s erwischt.«
»Warum habt ihr sie nicht retten können?«
Bauer Switterts lachte kurz:»Sind wir lebensmüde?«
»Aber … ihr hättet doch … «
»Tasso Nadeaus!« Die Stimme des Inselvogts klang sorgenvoll. Der Mann lief weiter hinten, er hielt seine jüngsten Söhne links und rechts an der Hand. Als er Tasso erkannte, ließ er die Jungen los und rannte auf ihn zu.»Erzähl, was ist mit meiner Frau? Ich habe gebetet! Wie ein Wahnsinniger habe ich gebetet!«
»Es ist ein Mädchen «, fasste Tasso sich kurz.»Inselvogt, was ist mit dem Schiff? Da war ein Kriegsschiff in Seenot! Habt Ihr die Kanonen nicht -«
Der Inselvogt packte ihn am Kragen und zog ihn zu sich heran.»Ob meine Frau noch am Leben ist, will ich von dir wissen!«
»Vorhin hat sie noch geatmet.«
»Was heißt vorhin?«
»Bevor meine Mutter mich losgeschickt hat, um Euch zu holen.« War das wirklich das Einzige, was den Inselvogt interessierte?»Was ist mit den Schiffbrüchigen?«, fragte er abermals, doch niemand schien es für nötig zu halten, ihm zu antworten.
»Ich muss zu Imke!«, entgegnete der Inselvogt nur, und die Ungeduld war ihm anzumerken.»Gott gebe, dass sie noch lebt.«
Tasso hielt ihn am Ärmel fest.»Warum hat denn niemand geholfen?«
Boyunga seufzte gereizt.»Wir haben auch für die Männer da draußen gebetet. Aber wenn wir ins Boot gestiegen wären … « Er drängte weiter.
»Was dann?« Glaubte er wirklich, das reichte ihm aus?
»Wir wären ertrunken. Wir alle. Und was wäre dann aus Imke geworden? Und den Kindern? Manchmal muss man eben Entscheidungen treffen, die für den einen den Tod bedeuten können … und für den anderen das Leben. Wenn du groß genug bist, Junge, dann wirst du verstehen, wovon ich rede.« Mit diesen Worten riss er sich los und rief nach seinen
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