Die Inselvogtin
1
S ie stirbt!«
Eine große Gestalt füllte die Tür. Die blonden Haare hingen dem Mann nass in die Stirn, und er drehte seltsam verkrampft seine Strickmütze in den Händen. Es waren kräftige Hände, gewohnt, zuzupacken. Aber jetzt wirkten sie hilflos. Die Weste aus Schweinsleder mit den golden glänzenden Knöpfen und das feste Leinenhemd mochten im trockenen Zustand etwas hermachen, der Sturmregen hatte sie jedoch zu triefend nassen Lappen werden lassen, die schwer am Körper des Besuchers hingen.
Tasso Nadeaus war gerade dabei, die Glut im Herd zu schüren, damit seine Mutter das Abendessen bereiten konnte. Er erinnerte sich nicht daran, den Inselvogt jemals auch nur in der Nähe ihrer Kate gesehen zu haben. Männer wie er hatten keinen Grund, ein windschiefes Häuschen wie das ihre zu besuchen. Und nun trat Vogt Boyunga ausgerechnet heute, am Heiligen Abend, direkt zu ihnen in die feuerwarme Hütte. Fast schien der Raum, in dem Tasso und seine Mutter sowohl aßen, arbeiteten und schliefen, durch die Anwesenheit des Vogtes zu klein geworden zu sein. Einer seiner Söhne, es war der blasse Gerjet, war ihm gefolgt, und gleich dahinter versuchte auch der eiskalte Sturm in die Stube einzudringen.
»Schließt die Tür, Vogt Boyunga, sonst erfrieren wir hier.« Geesche Nadeaus blickte den Inselvogt streng an, woraufhin sich der Mann eilig gegen die Holzplanken stemmte, aus denen Vorjahren notdürftig eine Tür zusammengenagelt worden war. Dann schob er den Riegel vor.
Sein Sohn krallte sich an das Hosenbein des Vaters. Es war nicht zu übersehen, dass er sich fürchtete. Wahrscheinlich hatte er von geschwätzigen Weibern oder deren Kindern gehört, dass Tassos Mutter ein Grund zum Fürchten sei.
»Geeschemöh … «, begann der Inselvogt.
»Über Euer Anliegen braucht Ihr mir gar nichts sagen. Ich kann mir schon denken, weswegen Ihr Euch mit Eurem Erstgeborenen in der Weihnachtsnacht zu mir verirrt. Wohl kaum, um meinem Sohn und mir ein gesegnetes Fest zu wünschen.«
Tassos Mutter blieb am Tisch neben dem Feuer stehen, schaute nicht einmal auf, rieb nur weiter die kleinen Fleischstücke mit einem Mus aus Meerwasser und getrockneten Kräutern ein. Der schwere Topf hing bereits über dem Herd, und die Schwarte aus fettem Speck begann allmählich auf dem schwarzen, heißer werdenden Eisen zu zischen und saftige Blasen zu schlagen.
Tasso wagte kaum zu atmen. Der Mann, den er bislang immer nur aus der Ferne bewundert hatte, war der Inselvogt von Juist. Aber was wollte er hier?
Seine Mutter wendete die hellroten Brocken, die ihr im Tauschgeschäft für eine Fettsalbe gegen Gliederschmerzen von einem großzügigen Nachbarn gebracht worden waren. Fleischreste, Schlachtabfall, dachte Tasso, gerade noch zu schade für die Katzen, mehr nicht.
»Ich bitte dich, Geeschemöh, schau nach ihr!« Die Stimme des Inselvogts war jetzt erstaunlich leise. Tasso hatte ihn schon oft brüllen hören, wenn er seiner Aufsicht nachging und die Insulaner anhielt, den Strand nach einer Sturmflut aufzuräumen. Oder wenn er in Wut darüber geriet, dass sich unvernünftige Menschen wie Bauer Switterts trotz der vom Fürsten unterzeichneten Strandverordnung noch immer nicht an das strikte Weideverbot in den Dünen hielten.
Nun aber wirkte er blass und still, wie sein wortloser Sohn neben ihm, der einige Jahre jünger als der zwölfjährige Tasso war.
»Sie schreit schon seit Stunden. Ich kann ihr nicht helfen, beim besten Willen nicht.«
»Vor neun Monaten hättet Ihr die Finger von ihr lassen sollen, Vogt, das hätte ihr geholfen.«
»Ich weiß.« Er blickte zu Boden und seufzte schuldbewusst.»Du hast es mir ja gesagt, mehr als einmal. Was gäbe ich jetzt darum, auf dich gehört zu haben! Aber heute kommt das Kind, und ich mache mir solche Sorgen um Imke.« Nun schaute er auf. In seinen hellgrauen Augen sah Tasso den Widerschein des Kaminfeuers flackern, aber noch mehr flackerte die Angst in ihnen.
»Ich flehe dich an, Geesche Nadeaus. Ich weiß, der Sturm ist schlimm heute Abend, aber wir haben Ebbe, und der Hammrich ist noch trockenen Fußes zu überqueren. Wir werden dir helfen.«
»Ich brauche keinen Beistand von einem Schwächling wie Euch.«
Tasso erschrak. Wie konnte seine Mutter so reden? Der Pastor und der Inselvogt waren die mächtigsten Männer auf der Insel, sie machten die Gesetze. Beide unterstanden direkt dem Amtmann, und dieser wiederum korrespondierte mit dem Fürstenhaus. Jedermann kuschte vor ihren Predigten,
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