Neumond: Kriminalroman (German Edition)
1
Seit Stunden lag der elfjährige Patrick Oberhausner nun schon mit geschlossenen Augen in seinem Bett und versuchte, die vielen wirren Gedanken, die wie verschreckte Insekten in seinem Kopf herumflatterten, zu beruhigen. Es war wie verhext: Obwohl sich sein Körper bereits unendlich schlaff und schwer anfühlte, konnte er nicht einschlafen. Sein Hirn war einfach nicht in der Lage abzuschalten, dafür war er viel zu angespannt. Denn heute war eine Neumondnacht. Sprich eine ganz besondere Nacht – eine gefährliche Nacht.
Er betrachtete die vielen bunten Sagen- und Märchenbücher, die sich neben seinem Bett türmten, und ließ seine Fingerspitzen sanft über deren Rücken gleiten. Sofort durchströmte ihn eine Welle der Beruhigung. Solange er seine Bücher hatte, konnte ihm nichts geschehen – darin stand alles geschrieben, was er wissen musste, um heil durch eine bedrohliche Zeit wie diese zu kommen. Denn bei Neumond war es so finster, dass die Gestalten, die im Wald hinter dem Haus lebten, unbemerkt aus ihren Verstecken schlüpfen und nach Opfern suchen konnten. Heute war es zudem auch noch furchtbar stürmisch, und das Sausen und Brausen des Windes, der durch die dunklen Tannen peitschte, übertönte jedes andere Geräusch.
So konnten die bösen Zauberer, Trolle und Hexen ohne Probleme herumschleichen und ihren gemeinen Schabernack treiben. Es war darum sehr wichtig, in einer Nacht wie heute genau aufzupassen, was man sagte, tat oder gar dachte. Ein zu lautes Wort konnte die Wesen anlocken, und meist reichte eine hastige Bewegung oder auch nur ein falscher Gedanke, um sie zu verärgern. Dann verfluchten und verwünschten sie einen oder taten einem sogar noch Schlimmeres an.
»Die verlorenen Seelen sind nicht gut auf uns zu sprechen. Manch einer, der ins Gehölz hineingegangen ist, ist nicht mehr herausgekommen«, hatte seine Großmutter, eine weise alte Frau, oft gesagt.
Sollte er es trotzdem wagen, einen flüchtigen Blick aus dem Fenster zu werfen? »Nein«, sagte er, raufte sein störrisches blondes Haar und schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. »Zu gefährlich.« Er schlug noch einmal zu und noch einmal und noch einmal – das tat er immer, wenn er nervös war. Das gleichmäßige Klatschen und der kribbelnde Schmerz beruhigten ihn und halfen ihm, sich zu fokussieren. »Zu gefährlich, zu gefährlich, zu gefährlich«, wiederholte er im Rhythmus der Schläge.
Dabei hätte er doch so gerne kurz hinausgeschaut und einen Blick auf den Wald riskiert. Es gab schließlich auch ein paar gute Geister, und wenn man einen von ihnen sah, durfte man sich etwas wünschen.
Der Gedanke daran zauberte ein Glitzern in seine großen, braunen Kinderaugen. Es gab so vieles, das er gerne hätte: zum Beispiel Feenstaub, eine Tarnkappe, Siebenmeilenstiefel, einen Zauberstab, einen fliegenden Teppich und eine Wunderlampe.
Patrick nahm all seinen Mut zusammen, schälte sich aus seiner Decke, richtete sich langsam auf und schaute nach draußen in die Dunkelheit.
2
Chefinspektor Otto Morell saß in der Polizeiinspektion des kleinen Tiroler Örtchens Landau, zog ein Gesicht wie drei Tage Regenwetter und kaute unmotiviert auf einem Croissant herum, als sein Assistent Robert Bender den Raum betrat.
»Was ist denn mit Ihnen los?«, fragte Bender, als er die Leidensmiene seines Chefs bemerkte.
»Urlaub«, sagte Morell kurz und knapp.
»Auwei. Ist etwas dazwischengekommen?«
»Nein.« Morell legte das angebissene Croissant auf einen Teller, der vor ihm auf dem Schreibtisch stand, und wischte sich ein paar Brösel vom Hemd. »Eben nicht.«
Bender verstand nur Bahnhof. »Also wenn
ich
in wenigen Stunden nach St. Gröben fahren würde, wo gut präparierte Skipisten, wunderschöne Langlaufloipen und tolle Après-Ski Bars warten, dann wäre ich jetzt um einiges besser drauf als Sie. Wo liegt also das Problem?«
»Wo das Problem liegt?« Morell schob den Teller mit einer ausladenden Handbewegung von sich weg. »Diese Frage hast du dir eben selbst beantwortet: Skipisten, Langlaufloipen und Après-Ski Bars. Etwas Schlimmeres gibt es nicht.« Er verschränkte die Arme vor seinem massigen Bauch und holte tief Luft.
Bender starrte das halb aufgegessene Croissant an und verstand die Welt nicht mehr. Normalerweise hatten Süßspeisen eine geschätzte Lebensdauer von weniger als einer Minute, wenn sie es wagten, auch nur in die Nähe seines Chefs zu kommen. Das musste eine riesige Laus gewesen sein, die Morell da über
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