Die Inselvogtin
das Abendmahl hat er ihnen verwehrt, mit der Begründung, dass ein bisschen Brot und Wein die schweren Sünden der Insulaner ohnehin nicht vergeben könnten. Da haben sie ihn von der Insel gejagt.«
»Und von welcher Prüfung hat er denn gesprochen?«
»Er hat eine Sturmflut kommen sehen, zerstörerischer und mächtiger als ein Heer gerüsteter Soldaten, aber ebenso unberechenbar. In einer Heiligen Nacht sollen die Wasser hereinbrechen, wenn keiner damit rechnet. Und es wird eine Gottesstrafe sein.«
»Mutter … « Tasso stand steif vor Schreck, der Sand hatte ihn längst schon bis zur Mitte des Schienbeins verschluckt, doch es kümmerte ihn nicht.
Die Mutter strich ihm kurz über den Kopf, als wolle sie ihn beruhigen, doch er wusste, dass sie mit den Gedanken ganz woanders war.
Ein zweiter Kanonenschuss dröhnte.
Tassos Herz schlug schmerzhaft schnell und heftig, und er versuchte krampfhaft, seine Füße aus dem Sog des Untergrunds zu befreien. Doch er schlug der Länge nach ins Wasser. Die feuchte Kälte fraß sich sofort in seine Kleidung, sein Mund war voller Sand und Salz, und die Augen brannten. Seine Hände krallten sich in den Schlick. Er wollte die Ellenbogen gerade stemmen, aber es ging nicht, ihm fehlte die Kraft.
»Mutter!«, schrie er. Doch sie ging bereits weiter, und allmählich verschwand die umhüllte Gestalt aus seinem Blick. Würde sie ihn tatsächlich hier alleine lassen?
Tasso wusste, er durfte nicht länger im Schlick stecken bleiben und tatenlos die Flut abwarten. Er musste ein Mann werden, ein starker Mann wie der Inselvogt – mit dem Unterschied, dass er niemals vor einem Menschen kuschen würde, wie Boyunga es heute getan hatte. Wer Schwäche zeigte, der würde im Leben verlieren. Das hatte er selbst allzu oft erfahren müssen, wenn die anderen Insulaner ihn gehänselt, ihn ausgegrenzt hatten. Nur wer sich wehrte gegen die vermeintlich Stärkeren, der würde überleben.
Ein letztes Mal versuchte Tasso, die Muskeln in den Armen anzuspannen. Aber die Hände gehorchten ihm nicht mehr, denn seine Finger waren inzwischen steif vor Kälte und fühlten sich an wie aus Stein. Doch die Arme gaben noch etwas her, und mühsam bekam er die Beine frei. Langsam wanden sie sich im schmatzenden Schlick.
Tasso Nadeaus wusste, er würde es schaffen, und nach heute Nacht würde er auch alles andere im Leben schaffen. Nie wieder würde er dabei nach seiner Mutter rufen.
Ein weiterer Kanonenschuss fiel, und Tasso spürte die Schwingungen des Grollens. Im selben Moment kam er frei. Er stemmte sich hoch. Das Wasser lief als grauer Brei an ihm herunter.
Und mit einem Mal war auch die Angst weg, sie war in diesem Loch stecken geblieben. Er hatte sich nicht nur aus dem Schlick, sondern auch von seiner Feigheit befreien können.
3
D as Schreien der Frau klang fürchterlich. Es wechselte in regelmäßigem Abstand von kläglichem Jammern zu einem unerträglichen Geheule. Der Anblick der gequälten Imke Boyunga tat sein Übriges, damit Tasso bereute, der Mutter zum Vogthaus gefolgt zu sein.
Seine Kleider waren inzwischen wieder getrocknet, und jetzt juckte der salzige Sand auf seiner Haut. Doch das war nicht das Schlimmste, auch nicht der Hunger, der sich inzwischen wie ein wundes Loch in der Mitte seines Körpers ausbreitete. Nein, am schlimmsten war das lautstarke Leiden der Frau, die sich dort auf dem mit Stroh gepolsterten Bodenbett hin und her warf.
Tasso drückte sich ganz eng an die Wand, die hinter dem Bett lag. Er wollte nicht mit ansehen, was seine Mutter dort zwischen den gespreizten Beinen der Ärmsten verrichtete.
Die Frau stöhnte und stieß immer wieder Worte zwischen den trockenen Lippen hervor. Mal waren es Gebete, doch meistens Flüche, die Tasso lieber gleich vergessen wollte, so gottlos kamen sie ihm vor.
Tasso kannte die Frau des Inselvogts. Angeblich kam sie vom Fürstensitz der Cirksena in Aurich. Imke Boyunga war früher eine blonde, anmutige Frau mit rosigen Wangen gewesen und einem Lächeln, das von der Leichtigkeit des Lebens erzählte.
Doch heute Nacht stand ihr der Schweiß auf der weißen Stirn, und sie zitterte, dass ihre Zähne aufeinanderschlugen und die hohlen Wangen bebten.
Tasso glaubte nicht, dass Imke Boyunga und das Kind noch gerettet werden konnten.
Seine Mutter hingegen blieb wie immer ruhig und hantierte gelassen, wenngleich sie nicht zimperlich war im Umgang mit dem geschundenen Körper. Eine Hand tauchte jetzt tief in den Leib hinein, während die andere
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