Die Invasion - 5
noch nicht abgetragen. Es waren zwei Gedecke aufgelegt, wie Rayno sogleich bemerkte. Allerdings vermied er sorgsam, sich seine Erkenntnis anmerken zu lassen. Die meisten unter den Vikaren bemühten sich um ein Mindestmaß an Diskretion, wenn es darum ging, ihre Geliebten in den Räumlichkeiten des heiligen Tempels zu empfangen. Natürlich wusste jeder, dass es dennoch geschah. Aber es galt eben, einige Standards aufrechtzuerhalten; es galt schlicht, den Schein zu wahren.
Aber Zhaspahr Clyntahn war eben keiner von ›den meisten Vikaren‹. Er war der Großinquisitor, der Bewahrer des Gewissens von Mutter Kirche selbst. Es gab Zeiten, in denen selbst Rayno, der schon seit Jahrzehnten in Clyntahns Diensten stand, sich ernstlich fragte, was seinem Vorgesetzten wohl durch den Kopf gehen mochte. Wie konnte dieser Mann derartigen Eifer an den Tag legen, wenn es darum ging, die Sünden anderer zu ahnden, während er sich seiner eigenen Sündhaftigkeit zügellos hingab?
Jetzt werd aber mal nicht ungerecht, Wyllym!, schalt sich der Erzbischof selbst. Clyntahn mag ja ein Eiferer sein, und er ist zweifellos
zügellos. Aber wenigstens gehört er unter seinesgleichen nicht auch noch zu den Verlogenen. Er unterscheidet penibel genau zwischen Sünden, erwachsen aus unserer schwachen menschlichen Natur, und eben jenen, die vor den Augen Schuelers und Gottes unverzeihlich sind. Der Herr Großinquisitor kann ja manchmal so unerträglich frömmlerisch tun wie kein Zweiter, das ist wahr. Aber niemand hat je miterlebt, dass er einen seiner Vikars-Kollegen für eben jene Schwachheit des Fleisches verurteilt hätte, die auch ihm nicht fremd ist. Mit demjenigen aber, der Schwäche im Glauben zeigt, dessen Spiritualität zu wünschen übrig lässt, verfährt er ganz anders. Ja, da ist er völlig unnachgiebig Dagegen ist er ... nun, bemerkenswert verständnisvoll, was die Vorrechte betrifft, die nun einmal mit hohen Ämtern unweigerlich einhergehen.
Rayno fragte sich, wer wohl an diesem Abend die Besucherin gewesen sein mochte. Clyntahns Appetit war in jeglicher Hinsicht schier unersättlich, und stets reizte ihn das Neue, Unbekannnte. Tatsächlich vermochten nur wenige Frauen seine Aufmerksamkeit über längere Zeit zu erregen. War sein Interesse an ihnen erst einmal abgeklungen, neigte er dazu, sich mit gelegentlich sogar überraschender Plötzlichkeit einer anderen zuzuwenden. Den Frauen gegenüber, die er so plötzlich seiner Gunst beraubte, zeigte er sich allerdings stets sehr großzügig.
Rayno war sich in seiner Funktion als Adjutant der Inquisition durchaus bewusst, dass es in der Hierarchie des Tempels nicht wenige gab, die Clyntahns Begeisterung für die Freuden des Fleisches missbilligten. Manch einer zeigte seine Missbilligung sogar, wenngleich stets mit der nötigen Vorsicht. Offen würde niemand dem Großinquisitor und seinen Vorlieben Paroli bieten. Und selbst wenn jemand es wagte: Rayno hatte schon den einen oder anderen Brief mit verurteilenden Bemerkungen verschwinden lassen, bevor der Großinquisitor etwas von den Angriffen auf seine Person hatte erfahren können. Dennoch war es nur natürlich, dass so mancher in Mutter Kirche mit dem Großinquisitor ein wenig ... unglücklich war. Hin und wieder war der Unmut gegen den hohen Geistlichen sicher nichts anderes als Neid. Die meisten aber hatten, das war Rayno durchaus bereit zuzugeben, tatsächlich etwas gegen Clyntahns ausgeprägte Sinnenfreude. Es hatte sogar Zeiten gegeben, da war es Rayno selbst nicht anders ergangen. Aber das war lange her. Denn lange bevor Clyntahn sein derzeitiges Amt angetreten hatte, war Erzbischof Wyllym Rayno zu dem Schluss gekommen, jeder Mensch habe seine Fehler - und große Männer hatten eben auch große Fehler. Clyntahn immerhin beschränkte sich bei seiner Fehlbarkeit ganz auf die fleischlichen Gelüste. Das erschien Rayno bedeutend besser als das, was er schon bei anderen Inquisitoren erlebt hatte: Jene hatten ihr hohes Amt dazu missbraucht, ihren Durst nach gänzlich unnötiger Grausamkeit zu stillen.
»Danke, dass Sie so rasch gekommen sind, Wyllym«, fuhr Clyntahn fort, kaum dass er Rayno begrüßt hatte. Er geleitete seinen Besucher zu einem der bequemen Sessel des Tempels. Dabei lächelte er zuvorkommend, rückte Rayno den Sessel zurecht und schenkte ihm dann gar eigenhändig ein Glas Wein ein. Normalerweise standen die Tischmanieren des Großinquisitors an zweiter - oder eher noch: dritter - Stelle hinter der Inbrunst, mit der er
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