Die irische Signora
durfte er wohl auch nicht mehr so tief ins Glas schauen; obwohl man ihn nicht ausdrücklich darauf hingewiesen hatte, war es ein Wink mit dem Zaunpfahl gewesen. Doch das war auch schon alles. Kein allzu hoher Preis für einen guten Posten. Und nach seinem Privatleben fragte niemand. Mochte Irland auch noch immer erzkatholisch sein – man lebte schließlich in den neunziger Jahren.
Und durch einen glücklichen Zufall hatte er ausgerechnet jetzt ein Mädchen kennengelernt, das ihn wirklich faszinierte und mit dem er durchaus länger als nur ein paar Wochen zusammensein wollte. Ein intelligentes, lebhaftes Mädchen namens Grania, eine Bankangestellte. Sie war ziemlich auf Draht, aber überhaupt nicht spröde oder schwierig, sondern warmherzig und offen. So jemanden fand man nicht an jeder Straßenecke. Allerdings war sie erst einundzwanzig, was natürlich ein gewisses Problem darstellte. Nicht einmal halb so alt wie er, doch das würde ja nicht immer so bleiben. Wenn er sechzig war, würde sie fünfunddreißig sein, was, so betrachtet, bereits die Hälfte von siebzig war. Mit der Zeit würde sie immer mehr aufholen.
Sie hatte nicht in sein Stadthaus mitgehen wollen, aber sie hatte ganz freimütig darüber gesprochen. Es liege nicht daran, daß sie Angst vor Sex habe, sie sei ganz einfach noch nicht dazu bereit, mit ihm zu schlafen. Und wenn sie eine Beziehung haben wollten, müßten sie sich gegenseitig respektieren, keiner dürfe den anderen zu etwas zwingen. Damit war er einverstanden gewesen, es erschien ihm nur fair. Ja, diesmal schon. Normalerweise hätte er eine solche Antwort als Herausforderung empfunden, aber nicht bei Grania. Er war durchaus bereit abzuwarten. Und sie hatte ihm versichert, daß sie keine Spielchen mit ihm treiben würde.
Als er sie in die Bar kommen sah, fühlte er sich so leicht und unbeschwert wie schon lange nicht mehr. Auch er wollte keine Spielchen mit ihr treiben. »Du siehst hübsch aus«, sagte er. »Danke, daß du dich für mich schöngemacht hast, das gefällt mir.«
»Du bist es mir wert«, erwiderte sie schlicht.
Sie tranken und plauderten wie Menschen, die sich schon ewig kannten, fielen einander ins Wort, lachten, hörten gespannt zu, was der andere zu sagen hatte.
»Heute abend gibt es einiges, was wir unternehmen könnten«, meinte Tony O’Brien. »In einem der Hotels findet ein New-Orleans-Abend statt, mit kreolischer Küche und Jazzmusik. Oder wir gehen in diesen Film, über den wir neulich gesprochen haben … oder ich koche dir etwas bei mir zu Hause. Dann wirst du sehen, wie toll ich das kann.«
Grania lachte. »Soll ich dir wirklich glauben, daß du mir Wan-Tan oder Peking-Ente kochst? Hast du mir nicht erzählt, daß bei dir nebenan ein chinesisches Restaurant ist?«
»Schon, aber wenn du mitgehst, koche ich dir selbst etwas. Um dir zu zeigen, wie wichtig mir das ist. Ich hole dir nicht einfach nur Menü A oder B oder so, obwohl es dir sicher auch schmecken würde.« So offen hatte Tony O’Brien schon lange nicht mehr mit jemandem gesprochen.
»Ich komme gern mit zu dir nach Hause, Tony«, entgegnete Grania ohne Umschweife.
Aidan schlief unruhig und wachte immer wieder auf. Doch kurz vor Morgengrauen fühlte er sich hellwach und hatte einen völlig klaren Kopf. Alles, was er bislang erfahren hatte, stammte aus dem Mund eines tattrigen alten Direktors, der kurz vor der Pensionierung stand und den Lauf der Welt nicht mehr begriff. Noch hatte die Abstimmung nicht stattgefunden, es gab keinen Grund, Trübsal zu blasen, sich Ausreden einfallen zu lassen, irgendwelche Maßnahmen zu ergreifen oder gar den Schuldienst zu quittieren. Da ihm all dies nun klargeworden war, würde heute ein sehr viel besserer Tag werden.
Er würde mit Mr. Walsh, dem derzeitigen Direktor, sprechen und ihn ohne Umschweife fragen, wie seine Bemerkungen von neulich zu verstehen seien – ob sie auf Fakten beruhten oder ob es sich um reine Spekulationen handle.
Vielleicht hatte er ja als nicht stimmberechtigtes Mitglied auch nur mit halbem Ohr bei den Beratungen zugehört. Aidan nahm sich vor, sich kurz zu fassen. Denn das war sein schwacher Punkt, seine Neigung zu übertriebener Weitschweifigkeit. Doch er würde sich vollkommen klar ausdrücken. Wie hatte der Dichter Horaz gesagt? Von Horaz gab es doch ein Zitat für jede Gelegenheit.
Brevis esse aboro obscurus esse
. Genau das war es: Je mehr ich mich um Kürze bemühe, desto unverständlicher werde ich. In der Küche wechselten
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