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Die Jaegerin

Die Jaegerin

Titel: Die Jaegerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitte Melzer
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halb England geführt, bis er vor wenigen Wochen endlich ins Glen Beag zurückgekehrt war. Seither hatte er jede freie Minute darauf verwandt, die Worte und Gesten einzustudieren und die Utensilien vorzubereiten, die für sein Vorhaben unabdingbar waren. Obwohl er den Ablauf des Rituals immer wieder geprobt hatte und bis ins letzte Detail beherrschte, war er nicht sicher, ob er wirklich bereit war. Womöglich würde er das nie sein.
    Vater Ninian hielt inne, als sich vor ihm die dunklen Umrisse der Ruinen Dun Domhainns aus dem Fels erhoben. Obwohl er nun schon seit dreißig Jahren im Glen Beag lebte, war er nie zuvor hier gewesen. Kaum jemand wagte sich in die Ruinen. Zu groß war die Furcht vor dem, was darin lauern mochte.
    Vater Ninians Augen streiften über den steinernen Torbogen und weiter zu einem mächtigen, von glitzerndem Reif überzogenen Mauerring, der die Gebäude dahinter umgab. Unzählige Risse klafften, schwärenden Wunden gleich, im Mauerwerk und gaben den Blick auf die dahinterliegende Dunkelheit frei. Zu seinem eigenen Erstaunen fand er den Anblick der alten Burg wenig bedrohlich. Die Ushana mochte darin ihr Unwesen treiben, doch sie vermochte nicht, ihm etwas anzuhaben, dessen war er sich nach all den Jahren des Studiums sicher. Der Bann, den einst ein Mensch über sie gelegt hatte, um sie sich gefügig zu machen, hielt sie an den Grenzen der Wirklichkeit gefangen – unsichtbar und körperlos.
    »Bald bist du erlöst!« Vater Ninian trat durch den Torbogen in den Hof der Festung – und hielt abrupt inne. Jetzt verstand er, warum die Menschen diesen Ort fürchteten.
    Alles hier war schwarz: die Innenseite des Mauerrings; die zerstörten und größtenteils eingestürzten Gebäude, die sich nach allen Seiten erstreckten; der Boden, ja selbst die gewaltige Eiche, die sich im Zentrum des Hofes erhob. Nebelschwaden reckten ihre bleichen Finger zwischen den verfallenen Gebäuden hindurch, bereit, nach jedem Eindringling zu greifen, um ihn mit eisiger Hand vom Angesicht der Erde zu tilgen. Doch selbst der Nebel schien gedämpft, als hätte jemand einen Schleier darüber gebreitet.
    Der Anblick der verkohlten Ruinen mochte erschreckend sein, doch was Vater Ninian in diesem Augenblick empfand , ließ ihm den Atem stocken. Er stand noch immer unter dem Torbogen, die Welt außerhalb der Burg keine zwei Schritte von ihm entfernt und dennoch kam sie ihm plötzlich unerreichbar vor. Zum ersten Mal, seit er das Pfarrhaus verlassen hatte, spürte er die Kälte. Sie kam geradewegs aus seinem Innersten und jagte ihm einen Schauer nach dem anderen über den Rücken. Die Ushana war hier. Er konnte ihre Anwesenheit spüren; finster, bedrohlich und alles verzehrend. Sein Mut bröckelte wie altes Mauerwerk unter der dunklen Aura, die die Ruinen erfüllte. Unwillkürlich hob er eine Hand an seinen Hals und schloss seine Finger um das Kreuz.
    »Sie kann mir nichts anhaben!«, erinnerte er sich und betete zu Gott, dass dem so sein möge. »Der Bann hält sie gefangen!« Ein ums andere Mal wiederholte er die Worte, um sich selbst zu beruhigen. Nur langsam normalisierte sich sein Atem wieder, ehe er erneut in tröstlich hellen Wölkchen in die eisige Nachtluft emporstieg. Es war an der Zeit, es zu Ende zu bringen. Seine Augen wanderten über die Ruinen der Nebengebäude, folgten den Steinbrocken, die einst Teile von Hauswänden gewesen sein mochten, weiter über den Boden bis zur Mitte des Hofes. Dort, im Herzen der Burganlage, richtete sich sein Blick auf die mächtige Eiche. An jener Stelle, an der heute der Baum aus dem aufgebrochenen Erdreich ragte, war einst der Scheiterhaufen aufgetürmt worden, auf dem die Ushana ihr Ende gefunden hatte. Hier hatte der Unendliche sie mit seinem Kuss des Blutes aus dem Tod zurückgeholt. Gab es einen besseren Ort, um es zu beenden, als den, wo einst alles begann?
    Das gefrorene Erdreich knirschte unter seinen Sohlen, während er bedächtig den Hof überquerte. Noch immer spürte er die Gegenwart der Ushana bis in die letzte Faser seines Körpers; so intensiv, als würde sie ihm folgen. Dieser Ort hätte schon vor langer Zeit gereinigt werden müssen! Obwohl der Weg vor ihm tückisch war – immer wieder musste er über die Überreste einer eingestürzten Mauer oder verstreute Geröllhaufen hinwegsteigen –, gelang es Vater Ninian nicht, den Blick von der Eiche zu wenden. Unzählige Geschichten hatte er im Laufe der Jahre darüber gehört. Angeblich war sie von Anfang an verdorrt aus

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