Die Juliette Society: Roman (German Edition)
ausnahmslos.
Jeder Lehrer für kreatives Schreiben, der etwas taugt, wird einem genau das sagen und es einen so oft wiederholen lassen, bis einem dieser Grundsatz so vertraut ist wie der eigene Name.
In der fiktionalen Welt ist das ein allgemeingültiges Prinzip, so unveränderlich wie Einsteins Relativitätstheorie. Wenn es nicht befolgt wird, bricht das gesamte Gefüge in sich zusammen.
Man könnte jeden x-beliebigen Filmklassiker (eigentlich jeden Film) in seine Grundbausteine zerlegen, und schon wäre klar, was ich damit meine.
Also, nehmen wir mal Vertigo , einen Film, den jeder Filmstudent wie ich auswendig kennen sollte. Jimmy Stewart spielt Scottie, einen Polizisten, dessen unbeirrbare und beharrliche Suche nach der Wahrheit, gekoppelt mit einer lähmenden Höhenangst und der Besessenheit von einer toten Blondine, die fast schon an Nekrophilie grenzt, genau die Dinge sind – gewissermaßen seine Achillesferse –, die ihn blind machen für die ausgeklügelte Täuschung, deren Opfer er wird.
Nehmen wir einmal an, Scottie wäre ein Polizist mit einer ausgeprägten Vorliebe für Süßes. Dann wäre die Sache vielleicht realistischer, aber der Film würde nicht funktionieren. Wenn Scottie magisch von einem Donutstand angezogen wird und nicht von einer Femme fatale, hätte Hitchcock seinen Film vergessen können.
Da haben wir’s. Die Handlung dient den Figuren.
Nehmen wir noch ein anderes Beispiel. Citizen Kane . Die Filmkritiker nennen ihn oft den besten Film, der jemals gedreht wurde, und das aus gutem Grund, denn er hat eine Botschaft, eine tolle Ausstattung, eine hervorragende Regie – einfach alles, was einen großartigen Film zu einem Meisterwerk macht und nicht in einen endlosen Werbespot für Microsoft, Chrysler oder Pringles verwandelt, wie das heutzutage üblich zu sein scheint.
Citizen Kane ist die Geschichte des Medienmoguls Charles Foster Kane, der von Hybris und Ehrgeiz zu Fall gebracht wird – eben jenen Eigenschaften, die ihn auf seinem Weg an die Spitze angetrieben haben. Eigenschaften, die sich von einem erdrückenden Mutterkomplex ableiten, der seine Erfolge überschattet, seine Ehe ruiniert und am Ende sein Leben zerstört.
Gefangen in diesem Teufelskreis, der bis in den Kern seines Wesens vordringt, stirbt der arme alte Charlie allein und ungeliebt, bloß weil er sich nie vom Busen seiner Mutter hat losreißen können.
Vielleicht war es aber auch gar nicht ihr Busen … denn das letzte Wort, das Kane vor seinem Tod ausstößt, als sich sein Griff um die Schneekugel löst, und er sie fallen lässt, und es ihm nicht gelingt, in dieser symbolischen Kristallkugel sein unmittelbares Schicksal zu erkennen – nämlich, dass sein Leben nicht nur verpfuscht, sondern vorbei ist – dieses Wort ist Rosebud, Rosenknospe. Und der Legende nach war das eine raffinierte Anspielung von Orson Welles auf den Kosenamen, den William Randolph Hearst (der echte Charles Foster Kane) der Vagina seiner Geliebten verliehen hatte.
Rosebud. Das erste Wort, das man im Film hört und das letzte, das man sieht; auf einem Kinderschlitten, der in Flammen steht, und das Feuer verzehrt das Wort, bis nichts mehr davon übrig ist.
Wenn man diese pikante Einzelheit einmal weiß, dann sieht man Citizen Kane nie mehr mit den gleichen Augen. Man hört Rosebud, man sieht Rosebud. Und man denkt: »Vagina«.
Sie glauben, Orson Welles wollte uns damit irgendetwas sagen? Tja, ich glaube, was er uns damit sagen wollte, war Folgendes: Charles Foster Kane ist ein echter Motherfucker. Und das ist, wenig überraschend, auch der Ursprung all seiner Probleme.
Noch einmal zur Erinnerung: Die Handlung dient immer den Figuren.
Nicht vergessen.
Und bloß so am Rande, es gibt eine Filmform und nur eine, die dieses Grundprinzip nicht befolgt. Ein Genre, das schamlos diese Regel bricht. Sie nicht bloß bricht, sondern auch noch auf den Kopf stellt, weil sie ihr scheißegal ist: der Porno.
Aber lassen wir das.
Jedenfalls ist mir klar geworden, dass dieser Grundsatz genauso auf die Realität zutrifft wie auf die Fiktion. Dass nicht bloß im Film alles, was den Figuren zustößt, dem dient, was sie sind, wie sie handeln und warum, sondern auch in unseren eigenen Lebensgeschichten, mit all den Entscheidungen, die wir treffen, und den Wegen, die wir einschlagen.
Die Straße, auf der ich mich befinde, kann keiner sehen. Es ist kein gelber Ziegelsteinweg, nicht der Lost Highway und auch nicht der Two-Lane Blacktop. Und ich weiß noch
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