Die Juliette Society: Roman (German Edition)
Ende alles sauber aufgelöst wird, wo die bösen Jungs ihre wohlverdiente Strafe bekommen, die dunklen Mächte und das Chaos besiegt werden und die Ordnung wiederhergestellt ist, und wo für den Helden oder die Heldin ein neuer Tag anbricht und sie wieder in ihr normales Leben zurückkehren können. Zurück nach Hause zu ihren Frauen, Kindern und Hunden. Ich weiß, ich muss Ihnen das nicht sagen, aber das echte Leben ist nicht so. Hollywood-Happy-Ends gibt es bloß im Kino.
Diese Geschichte endet eher wie die lange Kamerafahrt am Ende von Godards Außer Atem , wo Jean-Paul Belmondos Figur, ein Kleinkrimineller namens Michel, seinem Schicksal überlassen wird, nachdem seine amerikanische Freundin, gespielt von Jean Seberg, ihm eröffnet hat, dass sie ihn nicht liebt und ihn bei der Polizei verpfiffen hat – nur um seine Aufmerksamkeit zu bekommen. Nur aus Trotz.
Michel ist ein Gangster in einem Gangsterfilm. Dessen ist er sich bewusst, und noch dazu ist er schlauer als die meisten. Daher weiß er bereits, wohin das führen wird. Und wir wissen es auch.
Erinnern Sie sich noch, was ich gesagt habe?
Die Handlung dient immer den Figuren.
Also, Michel ist soeben in den Rücken geschossen worden, und er stolpert die Straße hinunter, wankt dem Vergessen entgegen. Er schafft es bis zu einer Kreuzung, dann bricht er zusammen. Und da ist es wirklich, das Ende, das er immer für sich vorausgesehen hat. Aber banaler, denn er sieht eher aus wie das Opfer eines läppischen Verkehrsunfalls als ein gefährlicher Gangster, der soeben im Kugelhagel der Polizei umgekommen ist.
Die letzten Worte, die ihm über die Lippen kommen, bevor er seinem Schicksal erliegt, lauten: C’est vraiment dégueulasse – Das ist wirklich zum Kotzen. Es ist sein bitterer Abschiedsgruß an eine Welt, die ihn nie geliebt hat, und die auch er im Gegenzug verachtet hat. Das ist sein »Rosebud«-Moment. Doch anstatt bei seinem Abtritt noch eine grandiose Offenbarung zu leisten, werden seine Worte vollkommen missverstanden, fehlgedeutet, falsch übersetzt in: »Er hat gesagt, Sie wären wirklich zum Kotzen.« Eine Aussage, die nicht an die Welt, sondern an die Frau, die er liebt, gerichtet ist. Die Frau, die ihn verraten hat, seine Achillesferse, die Femme fatale, die jetzt über ihm steht, als er eine Farce aus seiner großen Sterbeszene macht.
Doch als man ihr die Worte übersetzt, scheinen Jean Sebergs Französischkenntnisse, die im Film bis dahin eigentlich ganz beachtlich waren, plötzlich nicht mehr auszureichen. Sie versteht das französische Wort »dégueulasse« nicht und fragt, was es heißt.
Und damit endet der Film.
Sie begreift nicht nur die enorme Tragweite der Geschehnisse, die sie aus reiner Selbstsucht in Bewegung gesetzt hat, sondern wird auch ihr restliches Leben an einem Missverständnis zu knabbern haben.
Sie muss mit dem Glauben leben, dass er sie abgrundtief gehasst hat.
Wenn bloß alle Filme so enden würden. Wenn bloß alle Filme enden würden wie das echte Leben.
Ungeklärt.
Denn vom Moment unserer Geburt an – nein, früher, vom Augenblick unserer Zeugung an – ist unser Leben nichts als eine Reihe offener Enden. In Liebesdingen, beim Sex, im Beruf, in der Familie und vermutlich noch auf ein paar anderen Gebieten. Und wir müssen alle Kraft aufbringen, um uns nicht darin zu verheddern.
Manche Menschen sind ihr ganzes Leben wie besessen von den offenen Enden, vom Was-wäre-wenn, vom Was-hätte-sein-können und vom Was-wird-passieren.
Aber ich nicht.
Eigentlich bin ich im Moment selbst ein offenes Ende. Und DeVille weiß das. Er könnte mich loswerden, wenn er es wollte. Die Macht dazu hätte er. Er müsste bloß mit den Fingern schnippen und könnte mich verschwinden lassen. Wie Anna. Er könnte jemanden bezahlen, der mich beseitigt und es dann vertuscht, so wie er es auch mit Daisy und den anderen Mädchen getan hat. Die Konsequenzen dafür müsste DeVille nie tragen, nie den Preis dafür bezahlen. Er würde weiter sein Colgate-Grinsen in die Fernsehkameras halten, und niemand würde je etwas erfahren.
Aber er wird mich nicht anrühren, da bin ich mir ziemlich sicher. Und ich habe nicht vor, den Rest meines Lebens damit zu verbringen, über meine Schulter zu spähen und nach meinem Mörder Ausschau zu halten. Ich habe keine Angst. Ich bin sicher, DeVille hat das Risiko abgewogen und beschlossen, dass ich ein offenes Ende bin, mit dem er leben kann.
Warum, glauben Sie, bin ich mir da so sicher?
Tja, Sie wissen
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