Die Känguru Chroniken
ruppig das mächtig dicke Lehrbuch »Stoische Philosophie« aus dem Schrank.
»Ey! Vorsichtig! Ohne dieses Buch würden wir schon lange nicht mehr zusammenwohnen!«
Das Känguru schlägt es auf und hält mir die erste Seite hin. Da prangt ein Stempel: »Antiquariat am Mehringdamm«. Dann blättert es die mit Kugelschreibernotizen bekritzelten Seiten durch.
»Willst du etwa behaupten, du hast das in den letzten zwei bis drei Wochen – als du auf Tour warst – durchgearbeitet?«
»Die Notizen da waren schon drin«, sage ich.
Traurig schüttelt das Känguru den Kopf. Es greift in seinen Beutel.
»Hier habe ich die Notiz, die du mir heute Morgen geschrieben hast.«
»Dass du Milch kaufen sollst?«, frage ich.
»Ja. Jetzt vergleich mal das Schriftbild. Selbst ein Laie erkennt die Parallelen«, sagt das Känguru. »Hier. Das kleine N ohne Bogen. Der 45-Grad-Winkel beim K.«
»Okay!«, rufe ich. »Ich habe das Nietzsche-Buch vor zig Jahren gekauft. Es war billig, es machte was her, ich wollte es in mein Bücherregal stellen. Ich habe es nicht gelesen, und ich hatte auch nie vor, es zu lesen, okay?«
»Keine weiteren Fragen«, sagt das Känguru.
»Hast du Milch gekauft?«, frage ich.
»Sollte ich das?«
»Alter …«, sage ich zum Känguru. »Alter … Alter … Alter …«
»Was denn?«, fragt das Känguru.
»Ich weiß auch nicht«, sage ich.
»Hm«, sagt das Känguru.
»So kann’s doch nicht weitergehen«, sage ich.
»Nä«, sagt das Känguru.
Es läuft in einem Kreis um mich herum.
»Warum liegste denn auf dem Boden?«, fragt es schließlich.
»Kann mich nicht mehr bewegen«, sage ich.
Das Känguru bleibt stehen.
»Rückenschmerzen!«, sage ich und versuche den Kopf leicht anzuheben, um das Känguru besser sehen zu können. Geht nicht.
»Wirst alt, was?«, fragt das Känguru scherzhaft.
»Sag das nicht!«, rufe ich. »Ich bin wie Peter Pan! Ich werde niemals alt werden müssen.«
Zum Beweis will ich mich schwungvoll aufsetzen, aber der Schmerz reißt mich zurück.
»Komm mal näher«, sage ich. »Ich kann meinen Kopf nicht bewegen. Ich seh dich gar nicht.«
Das Känguru schlurft zwei Schritte heran, und sein Kängurukopf schiebt sich langsam von oben in mein Sichtfeld.
»Immer öfter, wenn ich die Treppe zu uns hochlaufe, freue ich mich darüber, dass die ein Geländer hat«, stöhne ich.
Das Känguru nickt.
»Und das letzte Mal, als wir ’ne Nacht durchgezecht haben, bin ich morgens aufgewacht und musste erst mal auf die Uhr kucken, um zu wissen, ob ich noch müde bin.«
»Auweia«, sagt das Känguru.
»Es war neun Uhr«, sage ich dramatisch.
»Und?«
»In letzter Zeit ist es immer neun Uhr! Egal wann ich ins Bett gehe … Ich wache auf: neun Uhr.«
»Das ist beängstigend«, sagt das Känguru.
»Mein Vater wacht jeden morgen um halb sechs auf«, sage ich verzweifelt.
»Wäre es okay für dich, wenn ich jetzt schon eine Annonce für dein Zimmer schalte?«, fragt das Känguru. »Ich kann es mir gerade nicht leisten, die komplette Miete allein zu bezahlen – selbst für eine kurze Zeit.«
»Haha. Warte nur, bis sie dir mal künstliche Sprunggelenke einsetzen, dann reden wir weiter«, sage ich und schreie noch mal vor Schmerzen, als mich das Känguru prüfend mit seinem Bein anstupst.
»Ey! Lass das!«, sage ich.
»Hm«, sagt das Känguru.
»Hilf mir lieber«, sage ich.
»Was denn?«
»Gib mir mal den Papierkram, der auf meinem Schreibtisch liegt. Und mein Notizbuch. Ich hab ’ne Idee für ein Lied. Ich nenn’s Zug der Opportunisten .«
»Was’n das?«, fragt das Känguru und kuckt den Papierkram durch. »Da steht FDP drauf …«
»Ich war gerade in der Müllerstraße, auf dem Müllerstraßenfest …«, erkläre ich.
»Klingt spannend.«
»Ist fast so spannend wie der Name. Jedenfalls gab es da so einen Stand von den Jungen Liberalen«, erzähle ich unter Schmerzen. »Kennste die? Die Jugend der FDP, die gruseln mich immer ganz besonders.«
»’ne Jugend von so was …«, sagt das Känguru kopfschüttelnd.
»Total abgefahren, oder?«
»Ich mein – wenn man so anfängt …«, sagt das Känguru. »Wo soll das noch hinführen …«
»Genau. Diese Leute möchte man ja nicht mit fünfzig oder sechzig treffen.«
»Ich hab einen von denen auf dieser Poolparty getroffen«, sagt das Känguru. »Dann ist der mir tatsächlich mit diesem ollen, doofen Spruch gekommen, von wegen, äh …«
»Wer mit zwanzig kein Kommunist ist, hat kein Herz. Wer mit dreißig
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