Die Karte der Welt (German Edition)
für seinen Vater, und dann, genauso plötzlich, schämte er sich dafür, dass er sich schämte. Das Haus war solide und sauber. Sein Vater hatte es mit eigenen Händen gebaut, und das Stroh auf dem Dach war frisch. Es hielt dem Regen stand und sogar den heftigen Schneefällen, die hier am Fuß der Berge Jahr für Jahr genauso sicher fielen wie der Regen. An der Wand hingen das alte, schartige Schwert seines Vaters und ein Lederumhang als Erinnerung an die Zeiten, als Elger die Familie noch vor Banditen beschützen musste. Das Wichtigste von allem aber war: Eines Tages würde sein Vater Wex die Schweinezucht überlassen, sein Lebenswerk an den geliebten Sohn weitergeben. Wex hatte also nicht den geringsten Anlass, sich zu beschweren, und es gab nichts, wofür sein Vater sich hätte schämen müssen.
Brynn sprach unterdessen unverdrossen weiter. »… und er wird mich nie zum Palast von Skye mitnehmen. Er hat kein bisschen Sinn für Spaß oder Abwechslung.«
Wex nickte, als würde er ihr zustimmen, aber innerlich wunderte er sich über ihre Unzufriedenheit. Ein Ausflug zum Palast? Spaß und Abwechslung? Die meisten in Zornfleck wünschten sich nicht mehr als ausreichend getrocknetes Fleisch für schlechte Zeiten und genügend sauberes Wasser im Brunnen. Verzicht war Wex’ geringste Sorge. Schweinemilben, Maul- und Klauenseuche, als Wurfgeschosse benutzte Kuhfladen und Prügel von den Nachbarssöhnen waren die Dinge, die er fürchtete.
»Spaß und Abwechslung?«
»Abenteuer«, erklärte Brynn und erstrahlte. »Die Hofdamen in der Stadt tragen seidene Kleider und Parfüm .«
Bei dem Wort »Parfüm« erschien ein Lächeln auf ihrem Gesicht, das erste, das Wex bei ihr sah, seit sie mit ihrem weißen Stiefel in die blutroten Eingeweide getreten war. Es stand ihr gut. Äußerst gut, wie er fand.
»Außerdem gibt es dort elegante Herren, die mindestens genauso viel Geld haben wie ein Pferdehändler, und sie geben es freimütig aus, um damit ihre Frauen zu beeindrucken. Sie kaufen ihnen Schmuck und Kleidung nach der neuesten Mode.«
Für Wex klang das alles herzlich wenig nach Abenteuer, aber er war weder reich, noch war er eine Frau. Brynns Wunsch jedoch, die Welt zu sehen, konnte er mit ganzem Herzen nachfühlen. Er war nie weiter weg von zu Hause gewesen als in Furtheim auf dem Markt, der gerade einmal vier Wegstunden südlich lag. Nach Norden, wo der Schleier war, ging niemand.
»Dein Stiefel ist jetzt wieder sauber«, sagte er und tupfte ihn mit dem frischen Wolltuch trocken, das er für sein wöchentliches Bad bereitgelegt hatte. Er hielt ihr den Stiefel hin, aber Brynn war mit den Gedanken woanders.
Über der Pritsche seines Vaters hing eine von Wex’ Zeichnungen. Es war Elgers Lieblingsbild, eine Darstellung ihres Hofs, gesehen von dem Hügel aus, auf dem Wex immer zeichnete. Brynn starrte es an und war vollkommen in Beschlag genommen von den Strichen, Klecksen und Schraffuren, die es irgendwie schafften, wie Gebäude, Zäune, Suhle und Stall auszusehen.
»Solche Bilder habe ich auch auf dem Markt gesehen. Dann bist du also der Zeichner. Derjenige, der immer die Zornberge malt, und nur in Rot.«
»Ja«, erwiderte Wex. »Schwarz und andere Farben sind teuer. Man kann sie nur in Furtheim kaufen.« Er seufzte. »Und meine Bilder bringen nicht viel ein. Sie sind nichts wert.«
Brynn musterte ihn. »Unsinn. Du hast ein kostbares Talent«, widersprach Brynn.
Wex strahlte. Ihre Worte waren keine hohle Schmeichelei. Brynn hatte nur ausgesprochen, was sie für offensichtlich hielt. Es war eine nüchterne Beobachtung und somit das aufrichtigste Lob, das Wex überhaupt bekommen konnte.
»Du solltest dir Tusche besorgen«, fuhr Brynn fort und sah ihm dabei direkt in die Augen. Sie führte jetzt ein richtiges Gespräch mit ihm, statt nur mit sich selbst Hof zu halten. »Mit Farbe bekommst du vielleicht einen besseren Preis, und mit dem Extrageld könntest du dir weitere kaufen. Verstehst du, was ich meine? Mit dem Gewinn könntest du dir ein … anderes Leben leisten.«
Sie ist klug , dachte Wex. Aber Geschäftspläne waren nichts für ihn.
»Es ist nicht das Geld, das einem ein glückliches Leben beschert«, erwiderte Wex. »Mein Vater sagt immer, Geld spielt keine Rolle, wenn am Ende der Sensenmann kommt und einen fragt, ob man ein gutes Leben geführt hat.«
Brynn starrte ihn an. Ihr Gesicht verfinsterte sich, und Wex begriff, was er da soeben gesagt hatte: Ihre Familie wurde nach nichts anderem bemessen als
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