Wildnis: Thriller - Band 3 der Trilogie
1. Kapitel
Er rannte durch die nächtliche Straße. Schwarze Häuser ohne Türen. Das Ende der Sackgasse. Das gesichtslose Wesen glitt auf ihn zu und umschloss seinen Hals. Er konnte sich nicht wehren, presste sich in Todesangst gegen die Wand, die ein wenig nachgab, es waren seine Kissen, es war ein Traum, nur ein Traum – doch die Hand würgte ihn wirklich! Er packte zu, zerrte an dieser Hand, die nicht von ihm lassen wollte, und stieß sie zurück.
Annas Hand!
Das nächtliche Streulicht Berlins sickerte schattenlos durch die Vorhänge, schuf verschwommene Formen ohne Farben, verlor sich im Dunkel und ließ nur das Weiß schimmern: Tapete, Laken und Annas aufgerissene Augen.
„ Was ist?“, fragte sie unsicher, undeutlich.
„ Du hast mich gewürgt.“
Sie schloss die Augen. Ihre Lider zuckten und öffneten sich wieder.
„ Schon gut, du hast schlecht geschlafen.“
„ Ich hab dich nicht gewürgt!“, protestierte sie, leise und immer noch schlaftrunken. „Geträumt ... du hast einen Alptraum gehabt. Ich hab dich geweckt.“ Die Spannung wich aus ihrem Körper. „Einen Alptraum“, murmelte sie und ihr Blick verlor sich, noch ehe ihr die Lider zufielen.
Ein Zittern durchlief Jan. Er rutschte von ihr ab und wickelte sich in seine dünne Decke ein.
Ihr Atem ging regelmäßig, sie war kaum wach geworden. Würde er sie jetzt wecken, wüsste sie wahrscheinlich nichts von dem, was sich eben ereignet hatte.
Es war besser, wenn sie sich an nichts erinnerte.
An diesem Abend hatte er ihr den Bericht gezeigt, den er über ihre dramatische Winterreise nach Alaska verfasst hatte, und sich dazu durchgerungen, von seiner Sorge zu sprechen: Sie verschwieg ihm etwas, etwas war nicht in Ordnung! Sie hatte verneint und ihn zu sich gezogen, und da hatte er ihr abgefordert, mit ihm das große Bett zu teilen. Entweder sie schlief bei ihm oder sie gestand, dass etwas nicht stimmte. Und nun hatte sie ihn gewürgt, nur im Schlaf, unbewusst, und trotzdem, es war ein Zeichen. Vielleicht hätte er sich geduldiger zeigen sollen, dabei konnte er sich eigentlich nichts vorwerfen, seit fünf Monaten waren sie nun zusammen und sie küsste ihn so stürmisch, und wie sie ihn manchmal ansah, zärtlich bewegt, als sei er ein Engel, um den sie verzweifelt gebetet habe, ja, sie liebte ihn, aber warum verweigerte sie sich ihm? Seine Gedanken verschwammen und er schlief ein.
Sie sprachen nie darüber. Mit der Zeit war er sich nicht mehr sicher, ob er sich den nächtlichen Vorfall nicht eingebildet hatte.
Die Wochen vergingen, es wurde ein strahlender Sommer. Jan fand zum ersten Mal in seinem Leben in eine Clique hinein, Germanistik-Studenten, die sich wöchentlich für einen literarischen Abend trafen und Bücher besprachen, Lesungen besuchten, eigene Texte vortrugen. Eine Studienkollegin begann, ein Drama zu schreiben, und ein weiterer Abend wurde jede Woche nötig, um die neuen Szenen mit verteilten Rollen auszuprobieren und an den Texten zu feilen. Jan war begeistert, wie sie spannungsgeladene Charaktere schuf, die zugleich überraschten und überzeugten. Und er freute sich, dass die Anderen sein Gefühl für die Zwischentöne, die Übergänge und das Ungesagte schätzten.
Er mochte sein Studium und besuchte mittlerweile die meisten Veranstaltungen, verfasste die Seminararbeiten, die er im ersten Semester hatte schleifen lassen, und absolvierte sämtliche vorgesehenen Prüfungen. Doch fieberte er den literarischen Abenden entgegen, an denen sich alles verband: Kunst und Freunde und Träume und Wein.
Ihm gefielen einige Mädchen und er spürte, immer noch mit euphorischem Unglauben, dass auch er gefiel – doch er liebte Anna. Zu seinem Bedauern verbrachte sie die meiste Zeit in der Ballettschule und ging anschließend Schwimmen oder Laufen, um ihre Fitness zu verbessern. Angeblich musste sie das Versäumte aufholen. Jan glaubte eher ihrer Freundin Chris, dass sich Anna, kaum von ihrer Schusswunde gänzlich genesen, an die Spitze der Klasse gesetzt hatte. Dafür sprach auch, dass sie in der Aufführung zum Abschluss des ersten Jahres eine der Hauptrollen erhalten hatte. Vor allem traute Jan seinen eigenen Augen: Keine tanzte wie sie. Mochte Anna recht haben, dass Andere die technischen Feinheiten noch besser beherrschten – wenn sie auf der Bühne stand, galten alle Augen ihr, und trat sie ab, war es, als wäre die Wärme aus dem Licht genommen und der Glanz aus der Musik: Sie fehlte.
Ihre Freundin Chris tanzte in der zweiten
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