Die Karte Des Himmels
faltigen Gesicht stand weit offen, ihr dünnes Haar hing nach allen Seiten herunter. Jude war dankbar, als die alte Dame sich auf ihr Klopfen hin endlich rührte.
Drinnen stellte sie ihre Taschen ab und drückte ihrer Großmutter einen Kuss auf die vertrocknete Wange. Einen Moment lang stand Jessie verlegen da und schaute ihre Enkelin entzückt und verwundert zugleich von oben bis unten an.
»Du siehst wirklich toll aus, Liebes. Sehr elegant.«
»Danke«, sagte Jude, die immer noch in dem schicken Leinenrock und dem Jackett steckte, das sie zu einem Geschäftsessen getragen hatte.
Sie folgte ihrer Großmutter in die Küche und stellte mit Bestürzung fest, wie krumm der Rücken der alten Frau geworden war. Jessie war inzwischen fünfundachtzig. Das letzte Mal hatte Jude sie an ihrem Geburtstag im Mai gesehen, als die Frauen aus vier Generationen – Gran, Judes Mutter Valerie, Jude, Claire und die kleine Summer – sich alle bei Sandwiches und einem schiefen Geburtstagskuchen ins Wohnzimmer gezwängt hatten. Summer hatte beim Kuchenbacken geholfen und das Ergebnis selbst mit Geleebonbons verziert. Später hatte Jessie es fertiggebracht, an Judes Arm am Hafen entlangzuhumpeln. Und jetzt, als sie zuschaute, wie ihre Großmutter sich an die Arbeitsplatte lehnte und sich mit der schäbigen Teedose abmühte, fragte sie sich, wie viel Zeit der alten Frau wohl noch blieb. Gran war zwar in der Lage, das Haus ohne Hilfe zu verlassen, aber würde sie bis zum Dorfladen kommen oder bis zur Arztpraxis? In Judes Kopf wirbelte alles durcheinander. Vielleicht sollten sie eine passendere Wohnung für Gran suchen. Gran würde sich allerdings heftig gegen einen Umzug sträuben.
»Lass mich dir doch helfen, Gran.«
Nach Jessies Anweisung goss sie kochendes Wasser in die vertraute metallene Teekanne, holte das Porzellanservice aus dem Schrank, das noch von ihrer Urgroßmutter stammte, und trug das Tablett ins Wohnzimmer. Jude liebte es, diesem kleinen Cottage am Meer einen Besuch abzustatten, das ihre Großeltern nach der Pensionierung ihres Großvaters bezogen hatten. Sie erinnerte sich daran, wie sie als Heranwachsende herkam, als ihr Vater herzkrank geworden war und nicht mehr Vollzeit arbeiten konnte. Damals waren sie alle von London nach Norwich gezogen.
Mit einem leichten Stöhnen ließ Jessie sich in den Polstersessel sinken. »Manchmal kann ich gar nicht mehr richtig durchatmen«, erklärte sie, als sie die Sorge in Judes Gesicht bemerkte. »Aber wenigstens ist mir heute nicht so schwindlig.«
»Schwindlig? Das klingt nicht gut.«
»Dr. Gable sagt, es liegt an diesen Viren. Gib mir das Kissen, bitte. Er hat mir ein paar Pillen verschrieben, aber die nehm ich nicht.«
»Oh, Gran«, schimpfte Jude, während sie ihrer Großmutter half, es sich bequem zu machen.
»Ich fühle mich dann immer so komisch. Rohes Ei mit einem Schuss Brandy drin – das wär ein richtig gutes Stärkungsmittel. Mach dir keine Sorgen, Jude, ich bin einfach nur eine verknöcherte alte Schachtel, und dagegen ist kein Kraut gewachsen. Aber jetzt erzähl, wie es dir ergangen ist. Ist doch viel interessanter. Willst du dir nicht eins von den fondant fancies nehmen? Ich weiß doch, wie gern du die isst.«
»Danke«, sagte Jude und beobachtete ängstlich, wie Gran mit der Teekanne hantierte. Sie nippte an ihrem Tee und streifte brav das Papier von einem der knallbunten Törtchen, die sie in jungen Jahren geliebt hatte, aber als Erwachsene nur noch schrecklich süß fand. »Tut mir leid, dass ich nicht so oft herkommen kann. Ich habe furchtbar viel Arbeit, und die Wochenenden vergehen auch immer wie im Flug. Mit Freunden und so weiter«, schloss sie mit schlechtem Gewissen.
»Mit jemand Besonderem?« Jessie schaute sie gespannt über den Rand ihrer Teetasse an.
Jude zögerte und lächelte dann. »Ja, es ist ein Mann im Spiel, falls du danach fragst, Gran. Nichts Ernstes, also mach dir keine Hoffnungen. Ich weiß doch, wie ihr seid, du und Mum.«
»Oh, kümmere dich nicht um uns. Macht er dich glücklich, Liebes?«
»Ich genieße seine Gesellschaft.«
»Das ist nicht dasselbe«, sagte Jessie ernst. »Ich mache mir Sorgen um dich, Jude.«
»Das weiß ich, Gran. Aber das solltest du nicht. Über das Schlimmste bin ich inzwischen hinweg.«
Gran musterte sie nachdenklich. »Solche Dinge vergisst man nicht so leicht. Und doch müssen wir sie hinter uns lassen und das Beste aus unserem Leben machen. Das habe ich auch lernen müssen, auf sehr schmerzhafte
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