Die Karte Des Himmels
wieder auf das Gespräch. »... der Arzt wusste auch nicht weiter. Ich weiß nicht, was ich jetzt noch tun soll.«
»Bitte entschuldige, was hat der Arzt gesagt?«
»Nichts«, sagte Claire gereizt. »Soweit er es beurteilen kann, ist alles in Ordnung.«
»Du machst dir wirklich Sorgen, stimmt’s?«
»Würdest du das nicht auch tun?«
»Hm, ja, natürlich.« Jude war Claires scharfen Tonfall gewohnt. Kein Grund, beleidigt zu sein. Claire erzog Summer allein, und manchmal merkte man ihr eben an, wie anstrengend das war.
»Ist sie denn sonst so wie immer? Nicht krank oder schmachtend vor Sehnsucht oder so?«
»Nicht, dass es mir aufgefallen wäre. Eigentlich scheint sie sogar sehr glücklich zu sein.«
»Dann hat sie vielleicht Stress in der Schule«, sagte Jude, obwohl sie sich mit solchen Dingen überhaupt nicht auskannte. Aber Claire schien den Gedanken gut zu finden.
»Kann sein, dass du recht hast«, sagte sie. »Sie schreiben ständig Tests und haben furchtbar viele Hausaufgaben auf. Außerdem ist sie in ihrem Jahrgang die Jüngste.«
»Sie stehen wirklich sehr unter Druck«, fügte Jude hinzu. »Ich habe gerade einen Artikel über das schwedische System gelesen. Da kommen sie erst in die Schule, wenn ...«
»Jude, hast du was von Mum gehört?«
»Nicht, seit sie letzte Woche angerufen und uns mitgeteilt hat, dass sie sicher in Malaga gelandet ist. Und du?«
»Nein«, sagte Claire verbittert, »aber sie würde ja auch nie meine Nummer wählen. Ich muss sie immer anrufen.«
»Sei nicht albern«, sagte Jude resigniert. Innerhalb der Familie war es schon immer ihre Aufgabe gewesen, Claire zu versichern, dass sie geliebt wurde.
»Aber es stimmt doch! Ich sollte jetzt lieber Schluss machen, an der Kasse stehen die Kunden Schlange.«
»Halt, ganz schnell noch, was glaubst du, wie es Gran geht? Ich bleibe Donnerstagabend bei ihr.«
»Oh, da wird sie sich freuen.« Claires Stimme klang weicher. »Es geht ihr ganz gut, obwohl sie ein bisschen gebrechlich ist. Am Samstag sind Summer und ich mit ihr nach Sheringham gefahren, um Schuhe zu kaufen. Es war eine ziemliche Tortur, weil es im Laden nicht das gab, was sie normalerweise trägt, aber schließlich haben wir doch noch ein Paar gefunden. Aber sag mal, was hast du mitten in der Woche eigentlich hier zu tun?«
»Ich weiß, es ist bloß ein schöner Zufall, aber ich fahre nach Starbrough Hall, um ein paar Bücher zu schätzen.«
»Nach Starbrough Hall? Wirklich? Darüber kann dir Gran ja jede Menge erzählen. Aber jetzt muss ich wirklich aufhören.«
Als Jude auflegte, war sie tief beunruhigt. Irgendetwas war aus dem Lot geraten. Zum Teil waren es die üblichen Spannungen in der Familie. Claire irrte sich, wenn sie annahm, dass ihre Mutter sie nicht gern hatte, sie irrte sich sogar sehr. Mum liebte ihre ältere Tochter genau so, wie sie Jude liebte. Jude hingegen hatte nie an der Liebe ihrer Eltern gezweifelt. Sie hatte einfach gewusst, dass diese Liebe existierte, und sie angenommen.
Ich glaube, dass Mum mich öfter anruft, weil sie mir vertraut, dachte Jude, während sie die Wäsche in die Maschine stopfte. Obwohl sie Douglas hat, vermisst sie Dad sehr, und ich bin ein bisschen wie Dad. Bodenständig und zuverlässig ... o Gott, das klingt stinklangweilig. Mums Beziehung zu Claire ist viel komplizierter. Wenn die beiden aufeinandertreffen, sprühen die Funken. Aber das heißt nicht, dass Mum Claire nicht liebt ... und, meine Güte, wie sie in die kleine Summer vernarrt ist!
Und um Summer musste man sich Sorgen machen. Jude konnte es noch nicht ganz glauben, aber sie hatte den Verdacht, dass ihre Nichte den gleichen schrecklichen Traum hatte wie sie als Kind.
3. Kapitel
»Gran! Gran!« Jemand klopfte. Jessie schlug die Augen auf, war ein paar Sekunden lang verwirrt. Am Fenster zeigte sich ein Gesicht. Nicht das wilde Mädchen. Die kleine Judith. Jude, ihre Enkelin. Sie hatte nicht mit ihr gerechnet. »Doch, Jessie, das hast du, du dummes altes Ding«, murmelte sie und stemmte sich aus dem Sessel hoch. Jude hatte angerufen und gesagt, dass sie donnerstags kommen und über Nacht bleiben wolle. Es war Donnerstag, und Mr. Lewis hatte ihr ein schönes Stück Fisch vorbeigebracht.
»Hallo, tut mir leid, dass ich dich geweckt habe«, sagte Jude, als ihre Großmutter die Tür öffnete. Einen Augenblick lang war sie besorgt gewesen, als sie durch das Fenster des Steinhäuschens gespäht und Gran zusammengesunken im Sessel erblickt hatte. Der Mund in ihrem
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