Die Kathedrale des Meeres
Rede. »Ich musste die Hälfte meiner Lehrlinge entlassen. Wie soll ich dir da Arbeit geben?«, fragte einer. »Es ist ein schlechtes Jahr. Ich habe nicht einmal genug, um meine Kinder zu ernähren«, sagte ein anderer. »Hast du es noch nicht bemerkt?«, fuhr ihn ein anderer an. »Es ist ein schlechtes Jahr. Ich musste über die Hälfte meiner Ersparnisse ausgeben, um meine Kinder zu ernähren. Früher hätte ein Viertel ausgereicht.«
»Wie sollte ich es nicht bemerken«, dachte Bernat. Aber er suchte weiter, bis der Winter kam und mit ihm die Kälte. Nun wagte er vielerorts gar nicht mehr zu fragen. Die Kinder hungerten, die Eltern sparten sich das Essen vom Mund ab, um ihre Kinder zu ernähren, und Pocken, Typhus und Diphtherie begannen, ihre tödliche Runde zu machen.
Jedes Mal, wenn sein Vater außer Haus war, warf Arnau einen Blick in dessen Geldbörse, anfangs jede Woche, mittlerweile täglich. Manchmal sah er mehrmals am Tag nach, weil er wusste, dass Bernats Rücklagen zur Neige gingen.
»Was ist der Preis der Freiheit?«, fragte er eines Tages Joan, als sie beide zur Jungfrau beteten.
»Der heilige Gregor sagt, dass ursprünglich alle Menschen gleich geboren wurden und folglich alle frei waren.« Joan sprach mit ruhiger, gleichmütiger Stimme, so als sagte er eine Lektion auf. »Es waren freie Menschen, die sich zu ihrem eigenen Wohl einem Herrn unterwarfen, damit dieser für sie sorge. Sie verloren einen Teil ihrer Freiheit, doch sie gewannen einen Herrn, der seine schützende Hand über sie hielt.«
Arnau sah zur Jungfrau auf, während er seinem Bruder zuhörte. Weshalb lächelte sie nicht? Hatte der heilige Gregor wohl auch eine leere Börse, so wie sein Vater?
»Joan?«
»Ja?«
»Was soll ich deiner Meinung nach tun?«
»Du selbst musst die Entscheidung treffen.«
»Aber was denkst du?«
»Das habe ich dir bereits gesagt. Es waren freie Menschen, die die Entscheidung trafen, sich einen Herrn zu suchen, damit er für sie sorge.«
Noch am selben Tag wurde Arnau in Grau Puigs Haus vorstellig, ohne dass sein Vater davon wusste. Er ging durch die Küche, um nicht von den Stallungen aus gesehen zu werden. Dort traf er Estranya an. Sie war dick wie eh und je, als beträfe sie der Hunger nicht. Plump wie eine Ente stand sie vor einem Topf, der über dem Feuer hing.
»Sag deinen Herrschaften, dass ich gekommen bin, um mit ihnen zu sprechen«, sagte er, als die Köchin ihn bemerkte.
Ein dummes Lächeln erschien auf dem Gesicht der Sklavin. Estranya sagte Graus Hausverwalter Bescheid und dieser informierte seinen Herrn. Sie ließen ihn stundenlang warten. Unterdessen defilierte das gesamte Personal durch die Küche, um Arnau in Augenschein zu nehmen. Einige grinsten, anderen – den wenigsten – war eine gewisse Traurigkeit darüber anzumerken, dass er klein beigab. Arnau hielt den Blicken stand und begegnete jenen, die ihn angrinsten, mit Hochmut. Doch es gelang ihm nicht, den Spott aus ihren Gesichtern zu löschen.
Nur Bernat fehlte, obwohl Tomás, der Stallbursche, ihm sofort Bescheid gab, dass sein Sohn gekommen war, um sich zu entschuldigen. »Es tut mir leid, Arnau, es tut mir leid«, murmelte Bernat immer wieder, während er eines der Pferde striegelte.
Nachdem er lange gewartet hatte – seine Beine schmerzten ihn von dem langen Stehen, da Estranya ihm verboten hatte, sich hinzusetzen –, wurde Arnau in den großen Salon der Graus geführt. Er hatte keine Augen für den Luxus, mit dem das Haus eingerichtet war. Gleich beim Eintreten richtete sich sein Blick auf die fünf Familienmitglieder, die dort auf ihn warteten. Baron und Baronin saßen, seine drei Cousins standen daneben. Die Männer trugen kostbare, farbige Seidenhosen und knielange, mit goldenen Schärpen gegürtete Wämser, die Frauen perlen- und edelsteinbestickte Kleider.
Der Hausverwalter führte Arnau in die Mitte des Raumes, einige Schritte von der Familie entfernt. Dann begab er sich wieder zur Tür, wo er auf Graus Anweisung hin stehen blieb.
»Sprich«, sagte Grau, reglos wie stets.
»Ich bin gekommen, um Euch um Entschuldigung zu bitten.«
»Dann tu es.«
Arnau wollte zum Sprechen ansetzen, doch die Baronin fuhr ihm ins Wort.
»So gedenkst du dich zu entschuldigen? Stehend?«
Arnau zögerte einige Sekunden, doch schließlich beugte er ein Knie. Margaridas blödes Kichern hallte durch den Raum.
»Ich bitte Euch alle um Verzeihung«, sagte Arnau, während er die Baronin direkt ansah.
Die Frau durchbohrte ihn
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