Die Kinder der Nibelungen (German Edition)
1
Der Nibelungenbrunnen
Aus der Tiefe des Brunnens blinkte es golden herauf.
»Da ist was!«
Die Stimme kam von einem blondschöpfigen Jungen, dessen Kopf, umrahmt von einem Kranz aus Licht, über den dunklen Kreis des Brunnenrands lugte.
Eine Sekunde später schoben sich zwei weitere Köpfe vor das strahlende Blau des Sommerhimmels, der eine blond, der andere dunkelhaarig.
»Ich kann nichts sehen«, sagte der Dunkelhaarige. Seine Stimme hatte einen kaum wahrnehmbaren Akzent, obwohl sein Deutsch einwandfrei war.
»Jetzt ist es wieder weg.«
»Du spinnst, Siggi.« Eine Mädchenstimme, die zu dem zweiten Blondschopf gehörte. Die Sprecherin schüttelte unwillig den Kopf. Ein langer Zopf wippte über ihre Schulter in die Tiefe. Dann zogen sich die Köpfe wie auf ein geheimes Zeichen alle gleichzeitig zurück, und die drei richteten sich auf und sahen sich an.
Sommerliche Hitze hing über der Lichtung. In den Schatten zwischen den Linden, wo sich Dorngestrüpp mit Brennnesseln stritt, war der Fingerhut bereits erblüht und stand in satten, rosa-purpurnen Dolden. Aus dem Dickicht erklang das Lied einer Amsel; es war so rein und süß, dass man die Augen schließen und nur noch träumen wollte, von alten Zeiten und fremden Ufern und einer fernen, schönen, besseren Welt.
Es war das Wochenende vor den Großen Ferien, doch da ihr Feriengast bereits gestern eingetroffen war, hatten sie kurz entschlossen ihre Räder gepackt und waren in den Wald hinaufgefahren. Doch diese Stelle konnte man nicht mit dem Rad erreichen. Bis hierher waren die Touristen, die den Odenwald um diese Jahreszeit zuerst in Tropfen, dann in immer größeren Bächen und Strömen heimzusuchen begannen, noch nicht vorgedrungen. Dies war ihr Geheimnis. Und sie hatten beschlossen, es mit ihrem neuen Freund zu teilen.
Der Brunnen war alt, aus Bruchsteinen aufgemauert und früher einmal mit einem Rieddach bedeckt gewesen, das aber längst von Wind und Regen abgetragen worden war. Die Seilwinde war jedoch noch da; das Seil hing in den Brunnenschacht hinab. Der Eimer fehlte ebenfalls. Ob er geklaut worden oder einfach in den Brunnen gefallen war, weil das alte Seil nachgegeben hatte, ließ sich nicht sagen.
»Was ist das für ein Brunnen?«, fragte der Dunkelhaarige. Er mochte etwas älter sein als die beiden Geschwister – denn dass es sich bei ihnen um Bruder und Schwester handelte, war ganz offensichtlich -, wenn er auch einen halben Kopf kleiner war, und er wirkte sichtlich irritiert.
Siggi, der Blondschopf, grinste, und seine Schwester grinste ebenfalls.
»Du musst genau hingucken«, sagte sie. »Da ist eine Inschrift.«
Der Ältere ging in die Hocke und suchte die Steine der Einfassung ab. Dort, wo das Licht der Mittagssonne von schräg oben die Mauer streifte, glaube er feine Kratzer zu erkennen, die sich, wenn man ein bisschen Fantasie besaß, in der Tat zu seltsam eckigen Buchstaben zusammenfügten.
Zwischen seinen Augenbrauen bildete sich eine steile Falte.
»M-I-M-I-R …«, buchstabierte er.
»Was?«, entfuhr es Siggi entgeistert. »Das meine ich nicht. Wo steht das?«
Dann sah er es selbst. Es waren in der Tat nur Kratzer, die vermutlich nur bei diesem speziellen Licht Sinn ergaben. Aber er fühlte sich fast ein wenig gekränkt, weil dies ihm die sorgsam vorbereitete Pointe verdorben hatte. »Kannst du da auch was lesen, Gunni?«
Seine Schwester, die wusste, wie leicht ihr Bruder beleidigt war, versuchte, die Situation zu bereinigen. »Komm«, sagte sie. »Die Inschrift, die wir meinen, ist auf der anderen Seite.«
Sie gingen um den Brunnen herum. Dort war unmittelbar über dem Boden, früher von Gras lind Unkraut verdeckt, doch jetzt freigelegt und geputzt, eine Steinplatte in das Gemäuer eingelassen, aus der altertümliche Buchstaben herausgemeißelt waren.
»Ist aber schwer zu lesen.«
»Ich les’ sie dir vor«, bot sich Siggi an.
»Moment noch.« So leicht wollte sich ihr Gast nun doch nicht geschlagen geben. Er kniete nieder und ließ seine Finger über die erhabene Inschrift gleiten.
»›Hier an die … Quell’ hat Hagen …‹« Er sprach es wie ›Heygen‹ aus. »›Ernst …?‹«
»›Hier an diesem Quell hat Hagen / Einst den hürnern Siegfried ’schlagen!‹«, trompetete Siggi.
Seine Stimme klang unnatürlich laut in der Stille. Selbst das Lied des Vogels war plötzlich verstummt. Der metallene Himmel schien über ihnen zu lasten, als hielte die Natur den Atem an, um auf etwas zu warten.
»Merkste
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